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Schleichendes Gift

Schleichendes Gift

Titel: Schleichendes Gift
Autoren: Val McDermid
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Und mit den Insassen des Bradfield Moor Hospital zu arbeiten war nicht so viel anders, als sich mit einem senilen Großvater abzugeben, der Lech Walesa immer noch für den Mann der Zukunft hielt.
    So hatte Jerzy also der Wahrheit ein wenig nachgeholfen und sich etwas Erfahrung im Umgang mit psychisch Kranken zusammengebastelt, die wenig Ähnlichkeit mit seiner tatsächlichen Vergangenheit am Fließband einer Essiggurkenfabrik hatte.
    Bis jetzt war das kein Problem gewesen. Die Pfleger und Helfer waren mehr damit beschäftigt, die Patienten in Schach zu halten als sie zu therapieren. Sie verabreichten Medikamente und beseitigten Schmutz und Unordnung. Alle Versuche einer Heilung oder Linderung blieben den Ärzten, Psychiatern, Therapeuten verschiedener Schulen und klinischen Psychologen überlassen. Es schien, dass niemand viel mehr von Jerzy erwartete, als dass er pünktlich zur Arbeit erschien und sich nicht vor körperlich unangenehmen Anstrengungen drückte, die in jeder Schicht vorkamen. Das alles konnte er mühelos bewältigen.
    Nebenbei hatte er einen genauen Blick für das entwickelt, was sich um ihn herum abspielte, und niemanden überraschte das mehr als ihn selbst. Aber es war unbestreitbar, dass Jerzy instinktiv erkannte, wenn Patienten die Ausgeglichenheit abhanden kam, die das Funktionieren des Bradfield Moor Hospital überhaupt möglich machte. Er war einer der wenigen Angestellten der Anstalt, die jemals bemerkt hatten, dass etwas mit Lloyd Allen nicht stimmte. Das Problem war nur, dass er sich inzwischen schon zutraute, selbst mit der Sache fertig zu werden. Er war nicht der erste Vierundzwanzigjährige, der eine übertriebene Vorstellung von seinen Fähigkeiten hatte. Allerdings einer der wenigen, die wegen dieses Irrtums zu Tode kamen.
    Sobald er Lloyd Allens Zimmer betreten hatte, sträubten sich die Haare auf seinen Armen. Allen stand, die breiten Schultern verkrampft, mitten in dem engen Raum. Die schnellen Bewegungen seiner Augen verrieten Jerzy, dass die Medikamente entweder auf spektakuläre Weise plötzlich ihre Wirkung verloren hatten oder dass es Allen irgendwie gelungen war, sie gar nicht einzunehmen. Jedenfalls schien er sich nur auf die Stimmen in seinem Kopf zu konzentrieren. »Zeit für deine Pillen, Lloyd«, sagte Jerzy betont beiläufig.
    »Kann ich nicht.« Allens Stimme klang wie ein angespanntes Ächzen.
    Er wippte leicht auf den Fußballen und rieb sich die Hände wie beim Waschen. Die Muskeln seiner Unterarme zitterten und zuckten.
    »Du weißt doch, dass du sie brauchst.«
    Allen schüttelte den Kopf.
    Jerzy tat dasselbe. »Wenn du deine Pillen nicht nimmst, muss ich es melden. Dann wird es schwierig für dich, Lloyd. Das wollen wir doch nicht, oder?«
    Allen stürzte sich auf Jerzy und erwischte ihn mit dem rechten Ellbogen unterhalb des Brustbeins, so dass dem Pfleger die Luft wegblieb. Als Jerzy sich vorwärtsbeugte, würgte und nach Luft schnappte, stürmte Allen an ihm vorbei und stieß ihn auf dem Weg zur Tür zu Boden. An der Tür blieb Allen plötzlich stehen und drehte sich um.
    Jerzy bemühte sich, klein und ungefährlich auszusehen, aber Allen kam trotzdem zurück zu ihn. Er hob den Fuß und trat Jerzy so fest in den Magen, dass die Luft aus dessen Lunge entwich und ihm vor tobendem Schmerz schwindlig wurde. Während Jerzy sich den Leib hielt, griff Allen ruhig nach unten und riss die Schlüsselkarte von seinem Gürtel. »Ich muss sie zu Ihm bringen«, knurrte er und ging wieder auf die Tür zu.
    Jerzy konnte ein schreckliches, krampfhaftes Ächzen nicht unterdrücken, als sein Körper nach Sauerstoff rang. Aber sein Gehirn funktionierte einwandfrei. Er wusste, dass er es zum Alarmknopf im Flur schaffen musste. Allen konnte sich mit Jerzys Schlüssel fast überall im Haus Zutritt verschaffen. Er konnte die Zimmer der anderen Insassen öffnen. Es würde nicht lange dauern, so viele seiner Genossen zu befreien, bis sie dem Personal zu dieser Zeit des Abenddienstes zahlenmäßig deutlich überlegen sein würden.
    Hustend, keuchend und mit Spucke am Kinn zwang sich Jerzy auf die Knie und rutschte näher zum Bett. Er klammerte sich am Rahmen fest, und es gelang ihm, sich auf die Füße hochzuziehen. Die Hände auf den Bauch gepresst, stolperte er in den Flur hinaus. Weiter vorn sah er Allen, der die Schlüsselkarte durch das Lesegerät an der Tür zu führen versuchte, von wo er in den Hauptteil des Gebäudes gelangen würde. Man musste die Karte mit der genau richtigen
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