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Schlechte Gesellschaft

Titel: Schlechte Gesellschaft
Autoren: Katharina Born
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war, sprach für ihre besondere Stellung in der Familie. Und auch in der weiteren Umgebung war sie bekannt, denn das Mädchen galt noch bis ins Aulbachtal hinein als der lebende Beweis für ein völlig unverdientes Glück.
    Â»Wie alt bist du«, fragte der fremde Herr mit jäher Dringlichkeit. Alles Necken und Johlen verstummte sofort.
    Â»Dreizehn«, sagte Irma, ohne den Blick abzuwenden.
    Â»Wo wohnst du?«
    Â»Auf der Hüh.«
    Â»Wie heißt dein Vater?« Nun begann das Kichern um die Kutsche herum von neuem.
    Â»August Wittlich«, sagte sie.
    Inzwischen näherten sich auch die Männer dem kaputten Gefährt. Bauer Gehrke nahm mit entschiedenem Griff den Braunen am Zaum, so dass der Herr einen Schritt zurück auf die grasbewachsene Böschung tun konnte. Der alte Brink machte sich an der Vorderachse zu schaffen, und von weitem sah man auch schon den Gemeindevorsteher und den Lehrer herankommen, die allein über die Worte verfügten, mit dem Fremden angemessen zu sprechen.
    Es stellte sich heraus, dass der junge Mann aus dem linksrheinischen Koblenz stammte und ein Verwandter des Besitzers der Walzwerke in Arlich war. Johann Georg Vahlen, der Neffe des Fabrikanten Sebastian Gotthelf Vahlen, befand sich auf dem Weg zur Jagdpacht seines Onkels.
    Der Gemeindevorsteher Lacher ließ es sich nicht nehmen, denHerrn, dessen Familie zu den wichtigsten des unteren Westerwaldes gehörte, über die neuesten Zahlen der Dorfgemeinschaft zu Viehstand, Feuervorkehrungen, Forstwirtschaft und Bevölkerungswachstum zu unterrichten. Als das Pferd aber abgeschirrt, die Reparatur des Landauers organisiert und der Fremde mit einer eilig aus der Pfarrei beschafften Kleiderbürste vom schlimmsten Dreck befreit worden war, bat Vahlen als erstes, man möge ihn zu einem Gasthaus führen.
    Â»Verzeihen der Herr«, sagte der Lehrer. »Es gibt in Sehlscheid kein Gasthaus. Wenn Sie mit der Lehrerstube vorlieb nehmen könnten, lade ich sie gerne auf ein Glas Morbelswein zu mir ein.«
    Nachdem er vier Gläser des dunklen Waldbeerenweins geleert hatte, hielt der Fremde den Zeitpunkt für gekommen, den Lehrer nach Wittlich zu fragen. Ferdinand Schütz, der sich gerade ausmalte, wie im Dorf über die unerwartete Ehre gedacht wurde, die ihm durch den Besuch des Fremden zuteilwurde, und dessen Blick vom reifen Wein bereits aufs angenehmste verschwamm, verstand die Frage sofort. Auch er kam von außerhalb und kannte als Mann des Wortes und der Bildung durchaus die neueren Moden, Gesprächsthemen und Gepflogenheiten der städtischen Bevölkerung. Er hatte gleich gesehen, dass er es bei dem jungen Vahlen mit einem Lebemann zu tun hatte, dessen Interesse sicherlich eher den Frauen, der Jagd und dem Wein galt als der Politik.
    Vor vier Jahren war Schütz aus Düsseldorf angereist, um vom alten Lehrer, der wegen Trunksucht entlassen worden war, die Dorfschule im Gebück und die angrenzende Wohnung mit Gemüsegarten und Obstbäumen zu übernehmen. Als er Irma zum ersten Mal in seiner Schulklasse sah, kannte er außer dem Pfarrer, dem Gemeindevorsteher und der Frau Gehrke, die ihm täglich von einer ihrer Töchter ein warmes Mittagessen bringen ließ, niemanden im Dorf. Schütz nahm zunächst an, das hübsche Mädchen wäre das Kind eines der wohlhabenderen Bauern aus dem Unterdorf oder komme von außerhalb. Doch Irmas dünngewordenes Kleidchen, das ihre langen, fast durchsichtig weißen Beine nur bis zu denKnien bedeckte, ihr von einem ausgeblichenen Band zusammengehaltenes Haar wiesen darauf hin, dass sie über das in Sehlscheid übliche Maß hinaus arm war.
    Von Anfang an hatte Schütz dem seltsamen Kind die größtmögliche Aufmerksamkeit geschenkt. Irma hatte schnell Fortschritte im Lesen und Schreiben gemacht. Und als sie mit elf aus der Dorfschule entlassen werden sollte, hatte Schütz all seinen Mut zusammengenommen, war zu ihrem Vater auf die Hüh gestiegen und hatte August Wittlich vorgeschlagen, seine Tochter als erstes der Mädchen im Dorf nach Arlich auf eine weiterführende Schule zu schicken.
    Wittlichs Trinkergesicht hatte sich im selben Augenblick verwandelt. In die abstehenden Ohren war das Blut geschossen. Seine Lippen hatten über dem Kinn zu zittern begonnen. Schütz war nicht sicher gewesen, ob der Mann Angst hatte oder ob er wütend war.
    Â»Niemals«, hatte Wittlich gestammelt. »Das
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