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Schismatrix

Schismatrix

Titel: Schismatrix
Autoren: Bruce Sterling
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empor.
    Sie hatte es getan. Jetzt auf einmal erschien es als sehr leicht. Hundertmal hatten sie beide darüber gesprochen - bis tief in die Nacht hinein, im Museum, im Bett nach der ehebrecherischen Liebe. Selbsttötung - der letzte, äußerste Protest. In Lindsays Kopf öffnete sich die unermeßliche Szenerie einer schwarzen Freiheit. Er hatte plötzlich und ganz widersinnig ein Gefühl starker Freiheit und Lebendigkeit. »Liebste, es wird nicht lange dauern ...«
    Er kniete da, als sein Onkel zu ihm trat. Das Gesicht des alten Herrn war grau. »Oh«, sagte er. »Das ist böse. Was hast du getan?«
    Lindsay wuchtete sich schwankend auf und stand. »Komm nicht näher an sie heran! Verschwinde!«
    Sein Onkel blickte starr auf die tote Frau. »Aber, sie ist ja tot! Du verdammter Narr, sie war doch erst sechsundzwanzig!«
    Lindsay zerrte einen langen Dolch aus großpunziertem Metall aus seinem Harmonika-Ärmel. Er zückte ihn mit der Spitze nach oben, auf die eigene Brust gerichtet. »Im Namen der Humanität! Und für die Erhaltung humaner Werte! Ich wähle und beschieße hiermit freiwillig ... «
    Sein Onkel packte ihn am Handgelenk. Einander mit wütend funkelnden Blicken in die Augen starrend, rangen sie kurz miteinander, dann ließ Lindsay den Dolch fallen. Sein Onkel hob die Waffe aus dem Gras auf und verstaute sie in seinem Laborkittel. »Das ist gesetzwidrig«, sagte er. »Du mußt mit einer Anzeige wegen illegalen Waffenbesitzes rechnen.«
    Lindsay lachte. Ziemlich brüchig. »Ich bin zwar dein Gefangener, aber du kannst mich nicht daran hindern, wenn ich mich zum Sterben entschlossen habe. Jetzt oder später - was spielt das für eine Rolle?«
    »Du bist ein fanatischer Trottel.« Sein Onkel betrachtete ihn mit verächtlicher Bitterkeit. »Die Shaper-Indoktrination hält anscheinend bis zum bitteren Ende stand, wie? Deine Schulung hat die Republik ein Vermögen gekostet... und du, du benutzt das - um Weiber zu verführen und zu ermorden.«
    »Sie ist sauber gestorben! Es ist dem Menschen besser, daß er in einem lodernden Knall für die Gute Sache sterbe, als daß er zweihundert Jahre lang als ein Verdrahtschädel der Mechanisten weiterlebe!«
    Lindsay senior blickte stier auf den Wirbel von weißen Flugmotten, die über der Kleidung der Toten schwirrten. »Irgendwie werden wir dich dafür drankriegen. Dich und diesen plebejischen Emporkömmling Constantine.«
    Lindsay konnte es kaum fassen. »Du verblödeter Mech-Idiot! Schau sie dir doch an! Kannst du nicht begreifen, daß ihr uns bereits ermordet habt? Sie war die beste Kraft, die wir hatten! Sie war unsere Muse, unsere Inspiration.« Der Onkel runzelte erneut die Stirn. »Woher kommen diese ganzen Insekten?« Er beugte sich vor und verscheuchte mit einer Schrumpelhand die Schwebmotten.
    Lindsay griff plötzlich zu und riß ein Medaillon in Goldfiligran vom Hals der Toten. Der Onkel packte ihn am Ärmel.
    »Es gehört mir!« schrie Lindsay. Sie begannen ernsthaft um das kleine Ding zu kämpfen. Der Onkel brach Lindsays ungeschickten Würgegriff und traf ihn zweimal in den Bauch. Darauf ging Lindsay in die Knie.
    Der Onkel hob das Medaillon auf und keuchte pfeifend: »Du hast mich angegriffen!« Er klang zutiefst empört. »Du hast dich körperlich gewalttätig gegen einen Mitbürger betragen ...« Er klappte das Medaillon auf. Über seine Finger triefte ein dickflüssiges Öl.
    »Was, keine Nachricht?« murmelte er überrascht. Er schnüffelte an seinen Fingern. »Parfüm?«
    Lindsay kniete noch immer. Er hechelte, um die Übelkeit zu überwinden. Dann kreischte sein Onkel auf. Weiße Schwirrschmetterlinge stießen auf den Mann zu und hefteten sich an die ölbedeckte Haut an seinen Händen. Dutzende waren es. Sie griffen ihn an. Wieder schrie der Mann auf und schlug sich die Hände ins Gesicht. Lindsay rollte zweimal um seine Achse ab, von seinem Onkel fort. Dann kniete er zitternd im Gras. Der Onkel lag auf dem Boden und wand sich in konvulsivischen Zuckungen wie ein Epileptiker. Lindsay kroch rückwärts auf Händen und Knien weg. Am Handgelenkmonitor des Alten Onkels blinkte das grellrote Signal. Dann bewegte er sich nicht mehr. Die Flugmotten krabbelten noch eine Weile über ihn hinweg, dann schwirrten sie nacheinander ab und verschwanden im Gras. Lindsay stand taumelnd auf. Er warf einen Blick zurück, über die Wiese hin. Durch das Gras kam seine ihm legal angekoppelte Frau langsam auf ihn und die zwei Toten zugeschritten.
     

ERSTER
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