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Schimmer (German Edition)

Schimmer (German Edition)

Titel: Schimmer (German Edition)
Autoren: Ingrid Law
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Einmachgläsern, alle hatten sie einen Metalldeckel und waren mit einem weißen Etikett versehen. Wir Kinder sollten sie beschriften. Aber unsere Oma machte keine Pfirsiche, Tomaten oder sauren Gurken ein, sondern Radiowellen. Oma wählte immer nur die allerbesten aus – ihre Lieblingslieder, -geschichten und -reden aus dem Regionalradio –, aber trotzdem standen überall in unserem Keller hohe Regale voller verstaubter Gläser, in denen sich die Radiosendungen vieler Jahre befanden. Wie Oma Dollop die Radiowellen in die Gläser sperrte, war mir ein Rätsel; sie griff einfach in die Luft und fing sie wie Glühwürmchen. Dann stopfte sie die unsichtbaren Dinger in die Gläser und sagte uns, was wir auf die Etiketten schreiben sollten. Und dann brauchte man bloß den Deckel eines Glases ein kleines bisschen aufzuschrauben, um zu hören, was drin war. Aber man musste aufpassen, dass man den Deckel nicht ganz abhob, sonst flutschten die Töne und Lieder hinaus und waren für immer verloren, es sei denn, Oma war dabei und fing sie rechtzeitig wieder ein.  
    An jenem Tag, als wir im Garten saßen und zusahen, wie Oma ihre Radiowellen fing, war Rocket brummiger als ein Bär im Winter. Die Sonne seines dreizehnten Geburtstages war schon fast untergegangen, bis jetzt war noch rein gar nichts passiert, und mein Bruder hatte Angst, dass auch nichts passieren würde. Rocket war ja das erste Kind unserer Eltern, und da Poppa aus einer stinknormalen Familie kam, die sich nur dadurch auszeichnete, dass die Männer, noch ehe sie dreißig waren, ihre Haare verloren, fürchtete Rocket, dass er nach Poppa käme – und schimmerlos und haarlos enden würde.  
    Es wurde Abend und die Sonne verkroch sich. Wir hatten gerade begonnen, die Einmachgläser ins Haus zu tragen, als Rocket stutzte und mit den Radiosendungen des Tages in den Armen dastand, so still wie nur was. Seine Haut sah blass aus im frühen Abendlicht, er beugte sich über die Gläser in seinen Armen und taumelte, als hätte er sie gerade aufgefangen.  
    Auch Oma Dollop war stehen geblieben, sie hielt den Kopf schräg, als ob sie lauschte. Meine Haare stellten sich auf, als eine kribbelige elektrische Strömung die Luft erfüllte.  
    »Komisch«, sagte Oma, während sie immer noch lauschte. »Mit dem Radiosender stimmt irgendwas nicht. Ich höre nur ein Rauschen.«  
    »Ist was, Rocket?«, fragte ich meinen Bruder vorsichtig. Ich machte mir Sorgen, weil er ganz verkniffen aussah und es so schien, als wäre jeder Muskel seines Körpers angespannt.  
    »Ich glaub, mir wird schlecht«, sagte Rocket. Dann gab es eine grelle Explosion von blauen Glitzerfunken, wie am vierten Juli, nur ohne Rot und Weiß, und mein Bruder fiel auf die Knie. Die Einmachgläser, die er in den Armen hielt, fielen klirrend zu Boden und zerbrachen, neun verschiedene Radiosendungen auf einmal ertönten, und ein Chor von Stimmen und Tönen schwebte in die Abendluft. Im selben Augenblick erloschen alle Lichter drinnen und draußen. Zischplopp verabschiedeten sich die Straßenlaternen mit einem kleinen Glasregen, und in allen Häusern der Straße gingen die Lichter aus. Der Stromausfall begann in unserem Haus und endete erst, als er den übernächsten Ort lahmgelegt hatte.  
    Rocket hatte seinen Schimmer und der war echt sensationell.  
    Als ich an dem Abend vor meinem eigenen wichtigsten Geburtstag ins Bett ging, nachdem Miss Rosemary Hackbraten aufgetischt und sich eingemischt hatte, betete ich nicht für einen mächtigen Schimmer, wie Rocket ihn hatte. Ich betete nicht dafür, einen Röntgenblick zu haben, superschnell rennen oder unter Wasser atmen zu können. Ich betete auch nicht für Opa oder für Gypsy. Ich betete noch nicht mal, dass Poppa aufwachte.  
    An diesem Abend betete ich, dass niemand – absolut niemand – zu meiner Geburtstagsfeier kommen würde.  

5. Kapitel
     
    An dem Samstagmorgen meines dreizehnten Geburtstags wachte ich früh auf und lag lange, lange still da und wartete nur. Bisher fühlte sich nichts großartig anders an. Ich konnte nicht durch die Zimmerdecke gucken oder mit einem Blinzeln das Licht einschalten. Ich konnte nicht von der Matratze schweben oder meine Kissen verschwinden lassen.  
    Trommel, trommel, trommel machten meine Finger auf dem Bettlaken, und ich seufzte. Nichts tat sich. Jedenfalls noch nicht.  
    Ich entschied, dass ich es wagen konnte aufzustehen. Vielleicht kam mein Schimmer erst in der Kirche zu meiner Geburtstagsfeier,
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