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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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die Berge hören kann. Holzschiffe hängen schief am Kai. Auf irgendeiner Mauer steht, daß Lesen ein Rettungsanker gegen die Langeweile ist, wohlgemerkt. Ich lese nun schon seit Tagen die unglaubliche Geschichte Sailing Alone Around the World von Joshua Slocum, der auf seinem eigenhändig gebauten Schiff zwischen 1895 und 1898 als erster allein die Welt umsegelte. Hätte er diese Reise jetzt gemacht, so hätten wir ihm begegnen müssen, denn er segelte über Kap Hoorn und die Magellanstraße in Gegenrichtung entlang dieser Küste nach Norden zu den kleinen Inseln Juan Fernández und San Félix, die Schouten und Le Maire bereits 1615 auf dem Weg nach Indien besucht hatten, kleine Flecke weit entfernt im Ozean, die wir rechts liegenlassen. Unweit von Puerto Montt befindet sich Puerto Varas, ein kleiner Hafen am Llanquihue-See. Dort sehe ich auch meinen gepreßten Seetang wieder, bestimmt für die Fischsuppe. Auf hohen Pfählen steht ein Holzgebäude im Wasser, man geht auf einem Steg an den vielen Küchen mit Fischen, Garnelen, Krabben und großen Seeigeln entlang und sucht sich einen Platz mit Blick auf den schneebedeckten Vulkan. Local 20 , von Silvia. Eine Holzveranda über dem Wasser, ein ferner Vulkan mit Eismütze, um mich herum das weiche Schnurren des chilenischen Spanisch, aus dem kleinen Transistorradio über dem mächtigen Herd kommt ein Lied über eine große entschwundene Liebe, und meine eigene Welt rückt in immer weitere Ferne.
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    Die Insel Chiloé, der Golf von Ancud, der Golf von Corcovado – Binnengewässer, die mit dem Ozean verbunden sind. Weil es so still ist, hat man das Gefühl, das Schiff schleicht. Das Wasser ist fast schwarz, bewegt sich nicht, glänzt wie polierter Marmor. An Land ist nichts zu erkennen, das nach Besiedelung aussieht. Dann ein kleiner Hafen, in dem wir nicht anlegen, Puerto Aguirre. Fjorde, Winter, auch wenn hier Sommer ist. Geheimnisvoll, all die Hügel links und rechts, mit niedrigen Wäldern. Ich stehe auf dem Vordeck, sehe, wie das Schiff das Wasser aufbricht. Weil das so langsam und still vor sich geht, scheint es, als würden zwei große Seidentücher auseinandergebreitet. Auf diesen Hügeln muß sich alles mögliche tummeln, Eulen, Füchse, Schlangen, vielleicht sogar Menschen, aber zu sehen ist nichts und auch nicht zu hören. Schwere Wolken, eisenfarbenes Licht, später Regen.
    Das Leben an Bord geht seinen eigenen rituellen Gang, ein Tag verschwindet im nächsten, wir kommen in die Nähe der Magellanstraße, und wieder möchte sich die Phantasie alles mögliche ausmalen, wie der Portugiese als erster diese Passage fand, was sein Chronist in den Berichten über die hier lebenden Indianer vermerkte, und die Mythen, die aus diesen Chroniken hervorgingen – und dann möchte die Phantasie die patagonischen Riesen aus diesen Mythen sehen, doch es gibt nichts zu sehen, tagelang fährt das Schiff unter einem mächtigen Wolkengewölbe dahin, an Backbord stets diese ewige Küste ohne Häuser und Menschen.
    Manchmal gehe ich auf die Brücke, um mir die Seekarten anzusehen, die Tiefen- und Entfernungsangaben,doch am meisten interessieren mich die Namen. Wenn alle diese Orte einen Namen haben, warum wohnt hier dann niemand? In meinem Tagebuch berichte ich von einer blonden Russin mit eisblauen Augen, aber auch von einer »engen Passage mit hohen Bergen« zwischen Abismo und Sor Amalia. Einmal sehe ich ein Boot mit einem Fischer, und alles beugt sich über die Reling und schaut zu ihm. Er lacht und winkt, aber wo wohnt er? Nirgends ein Dorf, Haus oder Hafen auszumachen.
     
    Wir überqueren den 52. Breitengrad, Isla Ramírez, Isla Contreras, Isla Pacheco, und das sind die Inseln, die auf meiner Karte noch einen Namen tragen, um sie herum liegen unzählige blau umrandete namenlose grüne Flecke, die, sofern dort doch Menschen wohnen, auf detaillierteren Karten zweifellos ebenfalls Namen haben. Am frühen Morgen die Isla Fulgate am Eingang zur Meerenge, langsam fahren wir ein, in der unendlich weiten Mündung passieren wir erst den Leuchtturm Evangelistas, später zwei andere, einen an Steuerbord, einen an Backbord, namens San Félix und Fairway. Auf der Landkarte kein einziger Ort, keine einzige Straße, keine Bahnlinie, kein Flugplatz, die Berge sehen immer höher und gefährlicher aus, diese gesamte Küste ist ein einziges grenzenloses Reservat, für Abenteurer muß es das Paradies sein. Die wenigen Indianer, die hier noch leben, machen von ihren Kanus aus Jagd auf
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