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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch
Autoren: Cees Nooteboom
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war der Beginn einer langen Periode des Exils, das sich über die gesamte spanischsprachige Welt ausgebreitet und enorme Auswirkungen gehabt hat. Dieses Schiff war die Winnipeg .
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    Die MS Deutschland , das schöne, altmodische Schiff, auf dem ich gut zwei Wochen lang nach Kap Hoorn und weiter bis nach Buenos Aires reisen werde, liegt in Valparaíso auf Reede. 22 400 Tonnen, 175 Meter lang, Eichentäfelung, blankpoliertes Messing, nicht eines dieser modernen schwimmenden Wohnsilos, die ich im Sommer in Spanien sehe. Es ist unvermeidlich, daß ich an Slauerhoff denke. Wie oft war er hier, als er die Südamerikaroute fuhr? Von Deck aus muß er dann, wie ich jetzt, die sacht ansteigenden Hänge der Stadt betrachtet haben und dahinter in der Ferne die weißen Gipfel der Anden. Aber nein, als ich viel später Slauerhoff zusammen mit Valparaíso bei Google eingebe, bekomme ich zwar eine Site der Weespertrekvaart-Männermit Seemannsliedern, doch unter ihnen findet sich kein Text von Slauerhoff. Ein typisches Beispiel für die Kraft der Legende, der Dichter war zwar oft in Südamerika, allerdings auf der anderen Seite des Kontinents, dort, wo ich hinfahre. Immerhin bleibt mir ein Lied von Sting:
    Red the port light, starboard the green,
    How will she know of the devils I’ve seen
    Cross in the sky, star of the sea
    Under the moonlight, there she can safely go
    Round the Cape Horn to Valparaiso.
    Ich verdiene mir die Reise in der Admiralskajüte durch zwei Lesungen, von denen ich eine gemeinsam mit meinem Freund Rüdiger Safranski bestreiten werde, der solche Touren schon früher gemacht hat. »Aber dann bist du ein Bediensteter«, sagte der berühmte Kollege aus den Niederlanden treffsicher wie immer, als ich ihm von der bevorstehenden Reise erzählte. »Genau«, antwortete ich, »wie 1957, als ich zum erstenmal nach Südamerika fuhr und die Überfahrt dadurch bezahlte, daß ich Toiletten schrubbte und die Herren Offiziere bei Tisch bediente. Das surinamische Schiff, auf dem ich war, ging später bei Tobago unter, und die Hügel von Tobago waren das erste, was ich von diesem Kontinent gesehen habe.« Bediensteter unter Bediensteten: An Bord sind weiterhin ein Gitarrist, eine Sängerin, eine Klassik-Pianistin aus Aserbaidschan, ein paar Tänzerinnen mit sehr langen Beinen, ein Zauberkünstler. Außerdem bildet das Schiff die Kulisse einer sentimentalen Fernsehserie, Das Traumschiff , die ich nie gesehen habe, die aber in Deutschland sehr populärist. Alle echten Offiziere, inklusive vielleicht sogar des Schiffsarztes, haben also einen fiktiven Doppelgänger, und das gilt auch für die schmetterlingsgleichen Schauspielerinnen, die wir manchmal unter Filmscheinwerfern über das Deck huschen sehen. Das verleiht dem Ganzen etwas Unwirkliches, das mir gut gefällt.
    Der richtige Kapitän ist ein über vierzigjähriger Beau garçon, der in jedem englischen Kriegsfilm einen deutschen Offizier spielen müßte. Außerdem ist er ein echter Leser – wer immerzu um die Welt fährt, hat viel Zeit. Wenn er Landurlaub hat, wohnt er in Paris. Ich werde viele Stunden mit ihm auf der Brücke zubringen, ein Jungentraum, der mir geblieben ist. Er erzählt mir, daß manche Passagiere regelmäßig wiederkommen. Einsame Menschen, sagt er, die es an Land allein nicht mehr aushalten und manchmal ein halbes Jahr lang mitfahren, die Crew ihre Ersatzfamilie.
     
    Puerto Montt ist der erste Hafen, in dem wir anlegen, zwischen lebhaftem Hin und Her kleiner Boote, vollbepackt mit Blöcken aus schwarzem gepreßtem Tang. Wenn man Chile für einen Moment vom Rest des Kontinents ablöst, sieht man, wie unendlich schmal und lang das Land ist, viele Tausende Kilometer. Puerto Montt ist eine Provinzstadt, Hauptstadt der X. Region. Nach Süden zu wird das Land immer leerer, die Nummern der Regionen höher. Puerto Montt ist bis zur Antarktis (XII. Region) die wichtigste Stadt. Wir waren ein paar Tage auf See, lange genug, um uns an den sich wiederholenden Tagesablauf zu gewöhnen. Das Leben an Bord hat Ähnlichkeit mit einem Kloster, alles geschieht zu festen Zeiten, und man kann nicht weg. Nach einer Weile hat man seine Schritte dem sanftenSchaukeln angepaßt, der feste Boden an Land fühlt sich danach merkwürdig an. Ich lese die Zeitung mit der Lokalpolitik, vor dem Hintergrund der Anden auf der einen und dem Ozean auf der anderen Seite steht eine neunköpfige Jungengruppe und gibt auf großen Trommeln ein aufwühlendes Konzert, so laut, daß man es bis in
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