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Scherbenhaufen

Scherbenhaufen

Titel: Scherbenhaufen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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Ein Referenzmaß ist auf den Abbildungen allerdings nicht auszumachen.
    »Ein schönes Stück«, kommentiere ich, ohne wirklich etwas davon zu verstehen. Mein Urteil basiert auf der theatralischen Art und Weise, wie Robert Weihermann die Aufnahmen hervorgezaubert hat.
    Der dokumentierte Tonkrug überzeugt durch eine interessante Formgebung und irritiert mit einer reichen Ornamentik. Sein bauchiger Grundkörper verengt sich nach oben hin auf einen ringförmigen Durchmesser von ungefähr sieben Zentimetern. Darüber weitet sich das Gefäß um Fingerbreite und endet mit einem hohen Kragen. Ein kurzer, spitzer Ausguss durchbricht diesen seitlich. Ihm gegenüber entspringt in streng horizontaler Richtung ein Henkel mit rechtwinkligem Knick, der zum Bauch des Gefäßes zurückführt. Der besondere Reiz des abgebildeten Museumsstücks liegt im formalen Gegensatz zwischen fülliger Gefäßform und kantigem Bügel.
    Robert Weihermann erklärt: »Der Henkelkrug trägt die charakteristische Ornamentik der Thuner Majolika. Ich weiß nicht, ob Sie sich auskennen. Es handelt sich um Geschirr, das mit dem Aufkommen des regionalen Tourismus im 19. Jahrhundert als typisches Souvenir gehandelt wurde. Heute befinden sich die besten Stücke in England und Frankreich, den Herkunftsländern der damaligen Feriengäste.«
    Jürg Lüthi und ich nicken beflissen wie Musterschüler. Was mich anbelangt, halte ich die opulente Bemalung für überladen und den damaligen Zeitgeschmack für gewöhnungsbedürftig. Alle Zwischenräume der dekorierten Oberfläche sind mit bunten Tupfern gefüllt, als hätte der Künstler unter einem Horror vacui gelitten. Empfand er Abscheu vor der Leere?
    Unweigerlich blicke ich zu Niklaus Weihermann, der noch immer dunkle Schalen mit floralen Motiven mustert. Er lächelt bitter und schweigt. Wie ist seine Wortkargheit zu interpretieren? Mit Schüchternheit, mit Unhöflichkeit oder mit Desinteresse?
    In barocker Form und Fülle prangen ockerfarbene und reinweiße Blüten im prächtigen Blumendekor, umrankt von kobaltblauem und flaschengrünem Blattwerk. Besonders auffällig wirkt ein Muster in der Größe eines ›Fünflibers‹, einer Fünffrankenmünze. Es befindet sich sowohl am Bauch als auch am Kragen des Kruges und erinnert an das altkluge Gesicht eines jungen Steinkauzes. Zwei dunkelblau umrandete Kugelaugen starren weiß aus ziegelrotem Kopfgefieder. Ein durchgehender Brauenbogen grenzt die Augenpartie von der hell grundierten Stirn ab. Gitterförmig ist sie mit dunklen Schraffuren überzogen.
    Der Mitte der Eulenfratze entspringt ein kurzer, honiggelber Schnabel. Darin stecken drei lindengrüne Blättchen. Ein senkrechtes, kobaltblaues Streifenmuster füllt die untere Kopfhälfte und evoziert, trotz ungewohnter Farbigkeit, Bartwuchs. Blaubart im Berner Oberland?
    Robert Weihermann scheint meine Gedanken zu erraten und meint: »Diesem Motiv sagen wir ›Alt-Thun-‹ oder ›Chrut-Muster‹. Für die hiesige Majolika ist es jedenfalls typisch.«
    »Besonders alpenländisch wirkt das Ornament nicht«, entgegne ich.
    »Da gebe ich Ihnen recht, Herr Feller. Möglicherweise dokumentiert es Einflüsse aus dem Ottomanischen Reich«, bestätigt der Töpfermeister und begibt sich zu einem Regal. Ohne sich mir zuzuwenden, posaunt er: »Nach der Ausgrabung von Troja kamen orientalische Muster in Europa groß in Mode.« Robert Weihermann trägt feierlich eine bleigraue Plastikbox heran, öffnet sie behutsam und verkündet mit sonderbarem Unterton: »Schauen Sie her! Das sind die Bruchstücke des Museumsgeschirrs.« Tonscherben liegen in gelblichen Schaumstoff gebettet.
    »Hat die Ihnen die Direktorin persönlich anvertraut?«, erkundige ich mich verwundert.
    »So ist es«, bestätigt Robert Weihermann, ohne mit der Wimper zu zucken. »Ich habe ihr in Aussicht gestellt, den Krug fachgerecht und vor allem kostenlos zu restaurieren, falls sie sich bereit erklärte, die Anschuldigung gegen Niklaus fallen zu lassen.«
    Auf diesen Satz hin wendet der Junior ruckartig seinen Kopf und sendet dem Vater hoffnungsvolle Blicke.
    Jürg Lüthi will sich eine der bunten Scherben aus der Kiste pflücken. Aber hoppla! Robert Weihermann interveniert lautstark: »Nichts berühren!«
    Ich nutze die Peinlichkeit des Augenblicks für eine Zwischenfrage: »Was hat es mit der Beschuldigung Ihres Sohnes auf sich?«
    Unaufgefordert entnimmt mein Mitarbeiter seiner Umhängetasche einen Schreibblock, einen Kugelschreiber und Lippenpomade. Nachdem
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