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Schattenfall

Schattenfall

Titel: Schattenfall
Autoren: R. Scott Bakker
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einem Turm verschwanden. Das mussten die älteren Dunyain sein, die ihre Wache verließen. Nun würden sie die große Wendeltreppe hinuntergehen und in die Dunkelheit der Hunderttausend Gänge treten, in das gewaltige Labyrinth, das sich unter Ishuäl weit in die Tiefe erstreckte. Dort würden sie sterben, wie es beschlossen war – alle, die sein Vater verdorben hatte.
    Ich bin allein und habe nur noch eines: meine Mission.
    Er wandte sich von Ishuäl ab und stieg weiter durch den Wald. Der Bergwind trug ihm den bitteren Duft von Kiefernharz zu.
    Am späten Nachmittag erreichte er die Baumgrenze, und nach zwei Tagen über vergletscherte Hänge hatte er das Dach des Demua-Gebirges erklommen. Auf der anderen Seite der Bergkette erstreckten sich unter jagenden Wolken endlos anmutende Wälder über ein Land, das einmal Kûniüri geheißen hatte. Wie viele solcher Ausblicke ihm wohl unterkommen würden, ehe er seinen Vater fände? Wie viele von Schluchten zersetzte Horizonte müsste er hinter sich lassen, ehe er Shimeh erreichte?
    Shimeh wird meine Heimat, und ich werde im Haus meines Vaters leben.
    Über Steilhänge aus Granit stieg er in die grüne Wildnis ab.
    Er wanderte durchs Halbdunkel tiefer Wälder und durchschritt gewaltige Säulengänge aus Mammutbäumen, deren drückende Stille von der allzu langen Abwesenheit des Menschen zeugte, schlug sich mit seinem Umhang durchs Unterholz und überwand zu Tal schießende Gebirgsbäche.
    Obwohl diese Wälder denen unterhalb von Ishuäl sehr ähnelten, fühlte Kellhus sich unbehaglich. Er hielt an, um seine Fassung zurückzugewinnen, und bediente sich alter Techniken, seinem Geist Disziplin aufzuerlegen. Nichts rührte sich im Wald, nur Vögel sangen sanfte Lieder. Und doch konnte er Donner hören…
    Etwas passiert mit mir! Ist das die erste Bewährungsprobe, Vater?
    Er kam an einen Bach, der im Sonnenlicht wie marmoriert wirkte, und kniete am Ufer nieder. Das Wasser, das er an die Lippen führte, löschte den Durst schneller und schmeckte süßer als jedes Wasser, das er je gekostet hatte. Doch wie konnte Wasser süß schmecken? Und wie konnte Sonnenlicht, reflektiert von der Oberfläche eines rasch fließenden Bachs, so schön sein?
    Die Vergangenheit bestimmt die Zukunft. Die Dunyain-Mönche verbrachten ihr ganzes Leben mit dem Studium dieses Prinzips, um das ungreifbare Geflecht aus Ursache und Wirkung zu erhellen, das hinter jedem Zufall steckt, und um alles Wilde und Unberechenbare auf ein Minimum zu reduzieren. Deshalb entwickelten sich in Ishuäl die Ereignisse stets mit unumstößlicher Gewissheit. Selbst den Flug der Blätter, die sich aus dem Laubwerk der Terrassenhaine lösten, konnten die Mönche oft exakt berechnen. Noch ehe einer den Mund öffnete, wussten die Mönche meist genau, was er sagen würde. Die Vergangenheit zu begreifen, bedeutete zu wissen, was die Zukunft bringen würde. Und dies zu wissen, hieß wahre Schönheit zu erleben – die heilige Hochzeit des reinen Geistes mit der Laune des Augenblicks, wie der Logos sie stiftet.
    Von den prägenden Erlebnissen seiner Kindheit abgesehen, war diese Mission für Kellhus die erste wirkliche Überraschung. Bis dahin war sein Leben genau geregelt gewesen und ganz auf Beobachtung, auf Zurückführung der Beobachtungen auf Ursachen und auf die Entwicklung eines entsprechenden Inventars von Begriffen und Kausalitäten ausgerichtet. Jedes Phänomen, jedes Ereignis wurde seziert, um es rundum zu verstehen. Jetzt aber, da er durch die Wälder des untergegangenen Kûniüri wanderte, hatte er das Gefühl, die Welt stürzte ein, während er selbst stehen blieb. Eine endlose Kette von Überraschungen warf ihn herum wie einen Zweig im reißenden Bach: das schwache Trällern eines unbekannten Vogels; Kletten an seinem Umhang, die von einer unbekannten Pflanze stammten; eine Schlange, die sich über eine sonnige Lichtung wand und nach unbekannten Opfern suchte.
    Immer wieder hörte er über sich trockene Flügelschläge, was ihn stets aufs Neue anhalten und mit veränderter Geschwindigkeit weitergehen ließ. Ständig setzten sich Stechmücken auf seine Wangen, und er schlug nach ihnen, was seinen Blick auf immer neue Baumgruppen lenkte. Die Umgebung rückte ihm mehr und mehr auf den Leib und ergriff langsam von ihm Besitz, bis alles ringsum gleichzeitig und ungefiltert auf ihn einstürmte: das Knacken von Ästen; der stete Wandel, mit dem ein Gebirgsbach zwischen Steinen hindurchschießt – all das quälte ihn mit
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