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Schachfigur im Zeitspiel

Schachfigur im Zeitspiel

Titel: Schachfigur im Zeitspiel
Autoren: Philip K. Dick
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Während der letzten beiden Jahrzehnte hatten die technokratischen und beruflichen Klassen nach und nach die Kontrolle über die Gesellschaft übernommen. Um 1998 waren es anstelle von Geschäftsleuten und Politikern Wissenschaftler, deren Fachwissen sie befähigte …
    Irgend etwas hob das Auto hoch und schleuderte es von der Straße.
    Parsons schrie, als sich der Wagen schwindelerregend auf dem Seitenstreifen überschlug und in das Gestrüpp und die Bildungstafeln krachte. Der Leitstrahl hat versagt. Das war sein letzter Gedanke. Interferenz. Bäume, Felsen ragten vor ihm auf, schlugen über ihm zusammen. Ein kreischendes Bersten von Plastik und Metall und seine eigene Stimme verschmolzen zu einem chaotischen Gewirr von Schall und Bewegung. Und dann kam der widerliche Aufprall, der den Wagen wie einen Plastikkarton zusammenknüllte. All die Sicherheitsvorkehrungen im Wagen – verschwommen bekam er mit, wie sie sich zu einem verspäteten Handeln aktivierten. Sie betteten ihn ein, der Geruch von Antifeuer-Spray umhüllte ihn …
    Er wurde in eine wallende Leere aus Grau hinausgeschleudert. Er erinnerte sich daran, wie er sich langsam überschlug und wie ein gewichtloses, treibendes Partikel zur Erde hinuntersank. Alles war verlangsamt, wie eine Tonbandaufnahme, die mit einem Viertel der Aufnahmegeschwindigkeit abgespielt wurde. Er spürte keinen Schmerz. Überhaupt nichts. Ein ungeheuerlicher, formloser Nebel schien ihn rundum einzuhüllen.
    Ein Strahlenfeld. Eine Art Strahl. Die Energie, die den Leitstrahl überlagert hatte. Das wurde ihm klar – sein letzter bewußter Gedanke. Dann senkte sich Dunkelheit über ihn.
    Er hielt sich noch immer an seinem grauen Instrumentenkoffer fest.
     
    Vor ihm wurde die Landstraße breiter.
    Lichter flackerten rings um ihn auf, eingeschaltet durch seine Anwesenheit, ein wandernder Schirm aus gelben und grünen Punkten, die ihm den Weg zeigten. Die Straße tauchte darin ein und verschmolz mit einem komplizierten Netz anderer Straßen und Abzweigungen, die in der Dunkelheit verblaßten. Wohin sie führten, konnte er nur vermuten. Im Mittelpunkt des Komplexes hielt er an und betrachtete konzentriert ein Schild, das sofort und offenbar zu seinem Nutzen zum Leben erwachte. Er las sich die unbekannten Worte laut vor:
    »DIR 30c N … ATR 46c N … BAR 100c S … CRP 205c S … EGL 67cN.«
    N und S waren ohne Zweifel Nord und Süd. Aber der Rest sagte ihm nichts. Das C war wohl ein Längenmaß. Das hatte sich geändert – Angaben in Kilometern oder Meilen wurden nicht mehr verwendet. Der magnetische Pol wurde noch als Bezugspunkt gebraucht, aber das munterte ihn auch nicht sonderlich auf.
    Eigenartige Fahrzeuge bewegten sich auf den Straßen, neben und über ihm Lichttropfen. Ähnlich wie die Türme der Stadt verlagerten sich die Farbtöne, sobald sie den räumlichen Bezug zu ihm änderten.
    Schließlich gab er den Versuch auf, dem Schild weitere Informationen zu entnehmen. Es sagte ihm nur, was er bereits wußte, nichts weiter. Er war in die Zukunft verschlagen worden, und zwar um ein gutes Stück. Die Sprache, das Maßsystem, das ganze Erscheinungsbild der Gesellschaft hatte sich verändert.
    Er kletterte über eine Seitenrampe von der untersten Straßenebene zur nächsthöheren hinauf. Rasch schwang er sich zu einer dritten und dann zu einer vierten empor. Nun war ihm der Blick auf die Stadt nicht mehr versperrt.
    Das war schon sehenswert. Groß und schön lag sie vor ihm. Nicht von diesen industriellen Wucherungen umgeben und ohne die Kamine und Schlote, die sogar San Franzisko häßlich gemacht hatten. Es raubte ihm den Atem. Als Parsons dort auf der Rampe in der kalten Nachtdunkelheit stand, während der Wind ihm ins Ohr wisperte, über ihm die Sterne, um sich herum die sich bewegenden Farbtupfer, die Fahrzeuge darstellten, überwältigten ihn seine Gefühle. Er setzte sich wieder in Bewegung, von neuer Energie belebt. Seine Stimmung hob sich. Was würde er vorfinden? Was war das für eine Welt? Wie auch immer sie sein mochte, er würde darin seinen Platz finden können. Dieser Gedanke dröhnte triumphierend in seinem Gehirn: Ich bin Arzt. Ein verdammt guter Arzt. Klar, wenn irgend jemand sonst in dieser Situation …
    Ein Arzt wurde immer gebraucht. Er konnte ihre Sprache meistern – ein Gebiet, auf dem er immer Begabung gezeigt hatte – und auch die gesellschaftlichen Sitten. Einen Platz für sich finden, überleben und festzustellen versuchen, wie er hierhergekommen war.
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