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Sartre

Sartre

Titel: Sartre
Autoren: Heiner Hastedt
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Helvétius (1715–1771) und Paul Thiry d’Holbach (1723–1789) fällt die besondere Radikalität der französischen Intellektuellen auf. Die Unterdrückung durch die katholische Kirche und die absolute Monarchie erweist sich im französischen Nationalstaat (anders als im liberalen England und im zersplitterten Deutschland) als besonders hart. Die französische Aufklärung mit Voltaire, aber auch mit Denis Diderot (1713–1784) agiert im Vergleich zur deutschen Aufklärung bei Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) antiklerikal und im Gestus radikal, weniger um Versöhnung bemüht. Widerstand formiert sich als geistiger Widerstand – eine Attitüde, die fortan zum französischen Intellektuellen dazugehört. Es ist Voltaire selbst, der sich für Jean Calas (1698–1762) einsetzt: Dieser ist trotz Voltaires Unterstützung nach der Anklage hingerichtet worden, seinen Sohn, der sich selbst getötet hatte, zur Verhinderung eines Übertritts zum Katholizismus ermordet zu haben. Voltaire schafft es, mit seiner Schrift
Sur la tolérance
im Jahre 1764 – also zwei Jahre nach der Hinrichtung – zumindest eine Aufhebung des Urteils zu erreichen. Sein Engagement ist typisch für die weitere Geschichte französischer Intellektueller, die zwischen Erfolg und Misserfolg schwankt.
    Eine besonders große Bedeutung für das Selbstverständnis der Intellektuellen in Frankreich entwickelt die Dreyfus-Affäre um 1900. Dreyfus, ein jüdischer Hauptmann der französischen Armee, wird 1894 zu Unrecht der angeblichen Spionage [32] für Deutschland bezichtigt. Die öffentliche Meinung erzwingt nach vielen Jahren eine Revision des Urteils; zu diesem Erfolg trägt auch Emile Zolas
J’accuse
bei. Mit der endgültigen Aufhebung des Fehlurteils im Jahr 1906 verbinden französische Intellektuelle die Einschätzung, dass intellektueller Widerstand durch anklagende Publikationen eine Veränderung der Gesellschaft zum Besseren bewirken kann.
    Neben dem Charakter des Philosophen als Intellektuellen bringt die französische Philosophie vor allem einen anderen Stil ein: Geistreich und mit Esprit muss ein Philosoph in Frankreich argumentieren. Eine zu große Genauigkeit, gar eine Pedanterie bei der Angabe von verwendeten Quellen stört dabei eher, zumal die eigene Philosophie auch in Büchern mit hohen Auflagen und heute im Fernsehen auf Interesse stoßen soll. Die Nähe zur Literatur gilt in Frankreich als Ehrentitel für die Philosophie und nicht als Makel wie meist in Großbritannien und Deutschland. Gerade die bekannten Philosophen des 20. Jahrhunderts – neben Sartre vor allem Michel Foucault und Jacques Derrida – wollen bewusst nicht bloß akademisch sein. Hierin liegt zugleich eine Attraktion und eine Schwäche dieser Denker. Neben einer oft unterentwickelten systematisch-theoretischen Entfaltung einer These, die manchmal sogar an bloßen »Budenzauber« erinnert, trifft man auf abstrakte Spekulation, die mit Leidenschaft und Genuss betrieben wird. Nicht immer ist ganz klar, ob der Autor eigentlich selbst versteht, was er zu Papier gebracht hat. Manchmal wird bei einer schwachen Begrifflichkeit und Systematik einfach nur viel Staub mit wenig gedanklichem Ertrag aufgewirbelt.
    In Frankreich besteht eine Differenz zwischen der akademischen Philosophie und der öffentlichkeitsbezogenen Philosophie, die sich in das allgemeine intellektuelle Leben einmischt. Außerhalb Frankreichs wird allerdings fast nur die öffentlichkeitsbezogene Philosophie wahrgenommen und als typisch französisch gescholten oder gelobt. Ob diese Trennung, für die es neuerdings zum Beispiel angesichts des in der [33] Öffentlichkeit und in den Universitäten gespaltenen Votums über Peter Sloterdijk (*1947) auch in Deutschland Indizien gibt, der Philosophie wirklich hilft, sei dahingestellt. Aus der Trennung der intellektuellen Philosophie und der akademischen Philosophie erwachsen Gefahren für beide: Die öffentliche Philosophie ist dazu verdammt, immer spektakulärer zu werden, während die akademische Philosophie immer mehr vertrocknet.
Die Rezeption von Hegel, Husserl und Heidegger in der Phänomenologie
    Während um das Jahr 1930 herum die akademische Philosophie in Frankreich immer noch vom Neukantianismus dominiert wird, kommt es kurz danach zu einer Hegel-Renaissance, die für den Hintergrund von Sartres Philosophie eine zentrale Rolle spielt. Es ist vor allem die Hegel-Deutung von Alexandre Kojève (1902–1968), die einer existenzphilosophischen Lesart von
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