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Russische Orchidee

Russische Orchidee

Titel: Russische Orchidee
Autoren: Polina Daschkowa
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und betrachtete das weiche, runde Gesicht, das von grauen Koteletten in der Mode der siebziger Jahre eingerahmt wurde.
    »Ilja Nikititsch? Guten Tag …«
    »Seltsam, daß du mich nicht gleich erkannt hast. Großartig siehst du aus, so hübsch und erwachsen. Du hast gerade Examen gemacht. Ich hoffe, mit Eins?« Er nahm ihr den Mantel aus der Hand. Sie konnte lange nicht die Ärmel finden, endlich schlüpfte sie hinein, schob ihr Haar zurecht und schüttelte den Kopf, wobei sie eine ganze Wolke von herbem Parfumduft um sich herum verbreitete.
    »Natürlich mit Eins, was sonst? Ich freue mich sehr, Sie zu sehen, Ilja Nikititsch.«
    »Ich mich auch, Warja. Du hast aufgelegt, aber unser Gespräch war noch nicht zu Ende.«

Epilog
    In Kalifornien, in einer dreistöckigen weißen Villa am Ufer des Pazifik, nahm Michael Batturin, ein hochgewachsener, hagerer alter Herr und einer der reichsten und prominentesten Anwälte Hollywoods, einen Schluck Mineralwasser aus einem hohen Glas, setzte sich bequemer im Sessel zurecht und drückte auf die Fernbedienung. Der riesige Bildschirm begann zu flackern, Musik erklang und ein schwarzweißer Löwe riß brüllend seinen Rachen auf. Unter bedrohlichen Trommelwirbeln flammte der Schriftzug des Titels auf: »Die rote Schlinge«.
    Dann schwebte zu einer schmachtend-lyrischen Melodie der Vorspann vorbei: »In der Hauptrolle: Sophie Paurier«.
    Es war ein wildes Melodram über den Bürgerkrieg in Rußland, einer der ersten großen Hollywoodfilme. Sophie Paurier spielte eine junge, schöne Fürstin, die ins rote Hinterland eingeschleust wird. Es gab jede Menge Schießereien und Verfolgungsjagden, Berge von Leichen und eine romantische Liebesgeschichte.
    Ganz am Anfang des Films saß die Fürstin in einem im altrussischen Bojarenstil eingerichteten Restaurant und sang zur Gitarre eine russische Romanze. Sie hatte eine tiefe, volle Stimme, ihr Russisch war ohne Akzent.
    »Von weither tönt das Läuten der Schellen,
    Jagt die Troika dahin wie im Flug,
    Und rings glitzert im Mondlicht, im hellen,
    Weißer Schnee wie ein Leichentuch.«
    Der Anwalt sang das Lied mit halbgeschlossenen Augen leise mit, ebenfalls ohne jeden Akzent in fehlerfreiem Russisch. Den Film »Die rote Schlinge« hatte er sich in der letzten Zeit sehr oft angesehen. Die Dreharbeiten zu diesemFilm gehörten zu seinen ersten Kindheitserinnerungen. Er achtete nicht auf die Handlung, er kannte jede Einstellung, jedes Wort auswendig.
    In einer Episode sah er seine junge, schöne Mutter und sich selbst, einen mageren dreijährigen Jungen mit großen hellen Augen. Bei den Aufnahmen hatte er weinen, aus vollem Halse brüllen müssen. Die Handlung sah vor, daß er unter den Trümmern eines zerstörten Zuges hervorkroch, unter den verstümmelten Leichen nach seiner Mutter suchte, sich die Tränen über die Wangen rieb und schrie: »Mama, Mama!«
    Die Szene war so rührend ausgefallen, daß schon mehrere Generationen von Kinobesuchern an dieser Stelle geweint hatten. Die Verzweiflung des kleinen Michail Baturin war nicht gespielt. Nach der Übersiedlung in die Staaten hatte er seine Mutter viel zu selten gesehen und große Sehnsucht nach ihr gehabt. Sie war fast sofort ein Star geworden und ständig bei Dreharbeiten.
    Michael Batturin war jetzt zweiundachtzig Jahre alt. Er war reich, aber er arbeitete immer noch. Er zitierte gern die Worte seines Großvaters, der Doktor der Medizin gewesen war, daß Arbeit das beste Heilmittel gegen alle Krankheiten sei, auch gegen das Alter.
    Der alte Anwalt Batturin trat mit jugendlichem Temperament weiterhin in Zivil- und Strafprozessen auf. Die Jahre hatten ihm nichts von seiner Energie genommen, sondern ihr Ruhm und Erfahrung hinzugefügt. Er gewann fast alle seine Prozesse, selbst ganz hoffnungslose Fälle. Jeder seiner Auftritte vor Gericht war bühnenreif, und es hieß, er habe die schauspielerische Begabung seiner berühmten Mutter geerbt.
    Jedesmal, wenn er ihre alten Schwarzweißfilme sah, bedauerte er, daß die Leinwand nicht das strahlende Tiefblau ihrer Augen wiedergab.
    Sophie Paurier hatte im Laufe ihres Lebens in mehr als vierzig Filmen mitgespielt, darunter zwanzig Hauptrollen. Dreimal hatte sie geheiratet, zuerst den Filmproduzenten Douglas Dickens, dann den skandalumwitterten französischen Regisseur Philippe Bonnier. Ihr letzter Ehemann war der Ölmagnat Heinrich Krause gewesen.
    1968 hatte sie ihre Karriere mit der Verfilmung eines Romans von Agatha Christie beendet, in der sie die
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