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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut
Autoren: Anne Chaplet
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von der Hauptstraße ab, in eine kopfsteingepflasterte Gasse. Es ging bergauf. Über ihnen hing das Schloß wie ein graues Felsennest. Das Gespann zog einen weiten Bogen um den Schloßberg, bis sie durch einen steinernen Torbogen in den Innenhof einfuhren.
    Das Geräusch der Pferdehufe hallte von den beiden langgestreckten Seitentrakten des Gebäudes wider. Sie mußte die Zügel unwillkürlich angezogen haben, denn die Pferde schritten wie in einem Trauerzug auf die Schloßruine zu.
    Das von Ferne so imposante Gebäude sah aus der Nähe wenig einladend aus. Die Uhr am Turm des Schlosses schien schon lange auf halb sechs zu stehen. Die steinernen Figuren auf den Simsen rechts und links davon wirkten grau und gebrechlich. Türen hingen schief in den Angeln oder waren mit roten Klinkern zugemauert.
    »Der alte Kasten ist nicht bewohnbar.« Besitzerstolz merkte man Kemper nicht an. »Wir wohnen Standesgemäß nebenan, im Traiteurshaus, da hauste früher der Koch.« Er half ihr vom Bock. »Sehen Sie sich ruhig um. Aber Sie sollten nicht allein hineingehen. In den oberen Stockwerken kann man für nichts mehr garantieren.«
    Der einstmals ockerfarbene Putz hatte sich in dicken Plac ken von der Fassade des vierflügligen Baus gelöst. In den Regenrinnen wuchs Unkraut. Einige Scheiben der tiefgezogenen Fenster waren zerschlagen, andere mit Pappe zugeklebt. Katalina versuchte einen Blick durchs Fenster. Hier mußte eine Kapelle gewesen sein. Die Stuckverzierungen an der Decke des Kreuzgewölbes waren größtenteils abgefallen und lagen in weißen Brocken auf dem Boden.
    Durch die Fenster zum nächsten Saal konnte man noch Reste von prächtigen Deckengemälden und Wandmalereien erkennen. Die Kachelöfen, das Parkett, die Wände schienen Opfer von jugendlichen Vandalen, Hausschwamm und kaputten Regenrinnen geworden zu sein. Katalina zog fröstelnd die Schultern hoch.
    Der durchdringende Schrei hinter ihr ließ sie zusammenzucken. Die erbitterte Klage eines frustrierten Schloßgeistes? Katalina drehte sich um. Ein Pfauenpärchen schritt heran. Es paßte zu der verkommenen Pracht mindestens so gut wie das Pferdegespann mit den schwarzen Friesen.
    Sie atmete tief durch. Der Turmflügel wirkte nicht ganz so verwahrlost wie die beiden Seitenflügel. Im ersten Stock waren die Fenster noch intakt, im zweiten mit Holzplanken vernagelt oder mit Plastikfolie geflickt. Der Anblick des Verfalls löste ein Gefühl in ihr aus, das sie nicht gleich entschlüsseln konnte. Sie legte den Kopf in den Nacken und sah hinauf zum Turm, um den ein Schwarm Krähen kreiste. Genau. Das alles war ihr vertraut. Es erinnerte sie. An Kälte, Feuchtigkeit, Hunger, Verfall. An das graue Bauernhaus, durch dessen Fenster und Türen der Wind blies. An das blakende Herdfeuer in der Küche. An die Großeltern. An Gavro.
    Es erinnerte an zu Hause.
    Zu Hause ist da, wo es Arbeit gibt, wies eine strenge innere Stimme sie zurecht, die wie Großmutter klang, wenn sie zu lange in der Bibel gelesen hatte. An Arbeit mangelte es in Blanckenburg sicher nicht: Sie hatte die örtliche Tierarztpraxis übernommen, in einem Fachwerkhaus in der Altstadt, das renoviert werden mußte. Bis alles fertig war, durfte sie im Kutscherhaus des Schlosses wohnen, das hoffentlich in nicht ganz so trostlosem Zustand war wie das herrschaftliche Anwesen selbst. Sie mußte möglichst bald verläßliche Handwerker auftreiben und sich um ein neues Auto kümmern. Schließlich wollte sie nicht auch noch die Freizeit in diesem Ruinenstilleben verbringen.
    Katalina schlenderte zurück zum Traiteurshaus, einem kompakten Bau, der vor der Schloßmauer lag und bewohnbar wirkte. Eine schrille Stimme schallte ihr entgegen. Sie schaute hinauf zum ersten Stock. Eine Frau mit einem dunklen, strengen Pagenschnitt um das runde Gesicht lehnte aus einem der Fenster und rief wieder etwas, das Katalina nicht verstand. Es klang wie ein empörtes »Nein« auf bayrisch.
    »Ich suche Noa, meine nichtsnutzige Tochter«, sagte die Frau, als sie schließlich hinunterblickte und Katalina sah. »Sie sind die neue Tierärztin, stimmt’s?«
    Katalina nickte.
    »Hat Alex Sie hier stehengelassen? Wo ist Ihr Gepäck? Wie war die Fahrt? Sprechen Sie überhaupt deutsch? Frieren Sie nicht?«
    Katalina mußte nicht antworten, denn die Frau hatte den Kopf noch vor dem letzten Fragezeichen zurückgezogen. Minuten später öffnete sich die Haustür.
    Katalina würde sich immer an diesen Augenblick erinnern, in dem sie Alma Franken zum
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