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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut
Autoren: Anne Chaplet
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Sperre aufgehoben wurde, brach Mathilde mit den anderen auf. Es hatte in der Nacht geregnet auf den gefrorenen Boden, Straßen und Wege waren spiegelglatt. Sie sah fassungslos zu, wie einer der eisenbereiften Wagen vor ihr im Zeitlupentempo von der Straße rutschte und im Straßengraben landete. Pferde strauchelten und stürzten, Menschen schrien und weinten. Die Welt war verrückt geworden.
    Ob noch Brücken über die Oder führten? Ob Schloß Blanckenburg noch stand? Ob Gregor an sie dachte?
    Sie hatten es sich versprochen, damals, als man die Zeichen schon lesen konnte: sie und die beiden Brüder Hartenfels, Folkert und Gregor, Söhne von Tante Betty, der Lieblingskusine ihrer Mutter. Es war wie ein feierlicher Schwur gewesen: Was immer passiert – wir sehen uns wieder in Blanckenburg. Aber Folkert war tot. Und Gregor?
    Zum ersten Mal, seit sie sich von Jechow verabschiedet hatte, verließ sie der Mut. Sie glaubte nicht mehr daran, daß sie ankommen würde. Daß der Winter je zu Ende ginge, daß der Kanonendonner einmal aufhören würde, daß sich die Kälte wieder zurückziehen könnte aus den Knochen, aus den Muskeln, aus dem Gedärm. Aus der Seele.
    In Bassenthin erzählte man, daß die Russen auf Köslin und Schlawe vorrückten; das lag nicht weit hinter ihr. In Pommern flüchtete noch niemand, es sei verboten, sagte eine Frau und lachte verächtlich. Mathilde zog mit den anderen Richtung Oder, zur Autobahnbrücke.
    Die Straße war überfüllt. Mathilde mußte immer wieder absteigen, weil sie so müde war, daß sie befürchtete, aus dem Sattel zu rutschen – und um Falla zu schonen. Die Nacht schien kein Ende zu nehmen.
    Weit vor der Brücke begann das Chaos. Soldaten versuchten, den Verkehr zu regeln, um die Flüchtlinge schneller überholen zu können. Mal sollten die Trecks rechts, mal links, mal in der Mitte fahren. Als vier andere Reiter umdrehten und ihr zuriefen, sie wollten zur nächsten Oderbrücke weiter südlich reiten, schloß Mathilde sich an. Eine Weile hielt sie das Tempo der anderen durch. Dann fiel sie zurück.
    Es wurde Tag. Langsam setzte Tauwetter ein. Gegen Mittag begann Falla zu lahmen. Bis Dammwiese hielten Roß und Reiter durch. Dort begann Mathildes Abschied vom letzten Stück Ostpreußen, das ihr geblieben war.

2
    Ankunft in Blanckenburg, fast sechzig Jahre später
     
    Ein Bahnhof war wie der andere.
    Katalina Cavic setzte Koffer und Taschen ab und zog sich den Kragen ihrer gefütterten Lederjacke enger um den Hals. Über den Platz vor Blanckenburg-Bahnhof strich ein eisiger Luftzug. Die wenigen Menschen, die an diesem frischen Apriltag zu sehen waren, hatten den Kopf gesenkt und stemmten sich gegen den Wind.
    Es war ihr mittlerweile egal, wo sie ankam – und was sie hinterließ, wenn sie wieder ging. Eine heruntergewirtschaftete Wohnung, ein paar Bücherkisten, ein altes Auto. Manchmal auch einen Mann. Warum Blanckenburg? Warum nicht? Das letzte Mal war es Kerken gewesen und davor Bramsche und davor …
    Sie schob die Hände in die Jackentaschen und zog die Schultern hoch. Irgendwann würde die Zeit kommen, da sie auch Blanckenburg wieder den Rücken kehren würde. Heimat ist, wo es Arbeit gibt. Der Rest ist Erinnerung.
    Sie blickte auf die Uhr. Er kam zu spät.
    Als sie wieder aufsah, glaubte sie sich in einer anderen Welt.
    Zwei schwarze Pferde vor einer offenen Kutsche galoppierten mit wehenden Mähnen auf den Platz. Das paßte weder zum Wetter noch zu diesem trübsinnigen Vorort. Das Friesengespann stob an ihr vorbei, trommelnde Hufe, geblähte Nüstern, rollende Augen. Der Mann auf dem Kutschbock hatte sich halb aufgerichtet, rief den Pferden etwas zu und zerrte an den Zügeln. Vergeblich.
    Katalina hielt ihr Gesicht in den Wind und hätte fast gelacht. Ja, es gab zu tun. Blanckenburg hatte eine Verabredung mit ihr. Sie würde das Städtchen schneller kennenlernen, als seine Einwohner ahnten und es ihr lieb war: den Mann, der seine Pferde nicht im Griff hatte. Und all die anderen, deren Hunde und Meerschweinchen, Katzen und Zierfische Koliken oder Flöhe hatten. Das war der Gang der Dinge. Ein Beichtvater war nichts gegen einen Tierarzt, diese natürliche Vertrauensperson aller Menschen mit Tieren, insbesondere der älteren und einsamen. Und ein Tierarzt war nichts gegen eine Tierärztin.
    Manchmal machte sie das traurig. Manchmal brachte es sie zum Lachen. Und manchmal sorgte es dafür, daß sie wieder ging.
    Immer auf der Flucht, dachte Katalina. That’s me.
    Das
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