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Russisch Blut

Titel: Russisch Blut
Autoren: Anne Chaplet
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waren. Mamas Augen beim Abschied. Papas Bitte, sie möge sich ihren Weg nach Westen abseits vom Treck suchen. Sie wußte, was er dachte: Es erhöhte die Chance, daß einer der Jechows überlebte.
    Manchmal dachte sie zaghaft an Gregor. Und manchmal schwebte ihr Blanckenburg vor Augen, wie ein Luftschloß, heiter und hell.
    Erst nach mehr als zwölf Stunden machte sie Pause. In dem verlassenen Hof hatten Soldaten Quartier gemacht. Es gab Futter und Wasser für Falla, dünnen Kaffee, Brot und ein Lager im Stroh. Sie war kaum eingeschlafen, als sie wieder hochschreckte. »Weg!« brüllte ein junger Soldat in den Stall hinein. Im Schein der Laterne leuchtete sein Gesicht, die Wangen gerötet, die Augen weit aufgerissen. Er war so jung. Jünger als sie, jünger als Gregor. »Wir sprengen die Brücke über die Nogat!« Wieder zog sie auf Falla neben dem Flüchtlingsstrom her, voller Hoffnung und voller Angst, dem Treck der Eigenen zu begegnen.
    Hinter Dirschau verließ sie die endlose Menschenkette und schlug den Weg nach Schöneck ein. Ein ausgemergelter Jagdhund lief eine Weile hinter ihr her, ohne einen Laut von sich zu geben. In Gladau schlossen sich ihr zwei vermummte Gestalten auf erschöpften Pferden an. Man nickte einander zu. Sie sah müde Augen unter schneeverkrusteten Brauen.
    Mathilde fühlte sich wie ausgeschnitten aus der Welt, die sie gekannt hatte. Die Stimmen, Gerüche und Farben waren immer flüchtiger geworden und hatten sich irgendwo auf der Strecke aus ihrem Gedächtnis gelöst. Ihr Kopf war leer. Manchmal spielte die Erinnerung ihr Gedichtzeilen zu, »Er stand auf seines Daches Zinnen« oder »Die Kraniche des Ibikus«. Alberne Abzählreime. Kinderlieder. Eine Zeile schwebte immer wieder an und begann sich schließlich einzunisten: »Aber weiter und weiter schlepp ich mich fort, von Tag zu Tag, von Mond zu Mond, von Jahr zu Jahr …«
    Im Forsthaus von Ribaken machten sie Rast. Mathilde nahm ihre Umgebung erst wieder wahr, als jemand Brot und heiße Suppe vor sie stellte. Und jetzt erst spürte sie den Hunger. Sie begann gierig zu löffeln.
    Die Gaststube des Forsthauses war überfüllt; kein Gesicht sah vertraut aus. Die Wärme und das Essen und die vielen menschlichen Stimmen lullten sie ein, sie wäre auf der Stelle eingeschlafen, wenn nicht die Schmerzen in ihren halberfrorenen Händen gewesen wären. Und die neuesten Nachrichten: Elbing war bereits am 23. Januar von den Russen eingenommen worden. Seither war das nördliche Ostpreußen vom Westen abgeschlossen. Sie war den Eroberern nur wenige Stunden voraus.
    »Sie kreisen uns ein. Sie sind hinter uns. Sie kommen von der Seite«, sagte ein älterer Mann mit bebender Stimme.
    Noch in der Nacht brach sie wieder auf. Einer ihrer stummen Begleiter half beim Nachschärfen der Stolleneisen. Der Mann hatte die Abzeichen von seiner Wehrmachtsuniform gerissen. Als er ihren Blick sah, sagte er: »Der Krieg ist schon seit letztem Sommer aus. In Berlin hat das nur noch niemand mitgekriegt.« Sie zog die Sattelgurte fest. »Wehe den Besiegten«, murmelte der Mann.
    Wenn es Folkert und seinen Freunden gelungen wäre, den größten Feldherrn aller Zeiten umzubringen, letztes Jahr, im Sommer – wäre sie dann auch hier, in dieser eisigen Nacht?
     
    Falla wirkte zum ersten Mal müde. Sie schien das rechte Vorderbein zu schonen. Mathilde murmelte Liebkosungen und kämpfte gegen die Angst an, die ihr in die Kehle stieg. Wer beten könnte.
    Sie erreichten Gut Jannewitz in der Dämmerung. Man hatte die letzten Schweine geschlachtet, die ausgeweideten Kadaver hingen an einem Balken im Hof. In der Wohnstube stand die Luft, es roch nach ungewaschenen Menschen und feuchten Kleidern. Ein ganzer Treck war hier gestrandet – Soldaten hatten Straßensperren errichtet, um Truppen der Wehrmacht ungehindert durchleiten zu können.
    Alles in Mathilde wollte weiter. Aber das Pferd brauchte eine Pause – und sie auch. Nur langsam drangen Menschen und Stimmen und Gerüche zu ihr durch: Die alte Dame, die ihr einen zweiten Teller Suppe gebracht hatte und jetzt auf dem Sofa saß und Strümpfe strickte, neben einem müden Mann im Wehrmachtsmantel, der den rechten Arm in der Schlinge trug. Das Mädchen mit den viel zu großen Augen. Das Kind, das den Suppenlöffel nicht halten konnte. Mathilde schob den Teller von sich, wollte aufstehen.
    Sie mußte schluchzend zusammengebrochen sein. Es war ihr peinlich, als sie merkte, daß ihr Kopf an der Brust ihres Nachbarn lag.
    Als die
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