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Rund wie die Erde

Rund wie die Erde

Titel: Rund wie die Erde
Autoren: Eva Demski
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kleiner Güterzug fuhr ununterbrochen darauf herum. Die Waggons waren mit allerlei Bürozeug beladen. Klammern, Radiergummis, Gummiringe, Bleistiftspitzer, was man so braucht. Einer aber war mit Mayonnaise gefüllt, und während der Professor über Volks- und Kunstmärchen oder den schwierigen Topos des Verlassenwerdens in Hänsel und Gretel dozierte, wartete er, bis der Mayonnaisewaggon an ihm vorbeifuhr, steckte den Zeigefinger rein und leckte ihn ab. Das geschah mit der größten Selbstverständlichkeit und unterbrach den jeweiligen Vortrag nicht. Die zuschauenden und zuhörenden Studenten gerieten durch das ständige Kreisen des Zügleins, das regelmäßige Niederfahren des Professorenfingers und seine ruhig dahindozierende Stimme in eine Art Trance. Ich weiß nicht, ob es je einen Studenten gelüstet hat, seinen Finger in den Mayonnaisewaggon zu stecken, wenn der bei ihm, also gegenüber vom Professor, vorbeikam – wir Mädchen jedenfalls wären niemals auf die Idee gekommen. Viel zu eklig! Wann und wie oft das Wägelchen wohl neu beladen wurde? Ob es je einer ausspülte? Für mich repräsentiert der längst vergessene Märchenforscher jedenfalls die größtmögliche Souveränität im Umgang mit einer kulinarischen Marotte.
    Es ist möglich, daß man mit Essen, das scheinbar niemand anderer als man selber mag, eine Portion Trauer um etwas Verlorenes herunterschlucken und verdauen kann. Oft handelt es sich dabei um regionale Speisen, die so speziell sind, daß es schon die Leute vom nächsten Dorf schüttelt, wenn sie davon nur hören. Meistens ist es etwas Fettes oder sehr Mehliges, dem die lebenslange Sehnsucht gilt. Joseph Beuys
hat dem ein Denkmal gesetzt, und es liegt an der traurigen Authentizität der Fettkunstwerke, daß man sie nicht für ausgemachten Unsinn hält. Ich bringe es einfach nicht fertig, sie als Scharlatanerie abzutun, so laut schreien Hunger und Heimweh aus den ekligen, immer unansehnlicher werdenden Objekten. Daß gräßliches Essen für ihn mit wunderbaren Erinnerungen verbunden war, zeigte auch seine Liebe zum Stockfisch. Wer in seinem Atelier eine Tonne, aus der heraus es entsetzlich stank, für den Beginn einer neuen Schaffensperiode hielt, irrte sich. Von Zeit zu Zeit bekam er diesen getrockneten Fisch, den er liebte, geschickt. Er wässerte ihn, und wenn man Pech hatte, wurde man zum Essen eingeladen.
    Daniel Spörri und einige seiner Fluxus-Kollegen erfanden dann die Eat Art, sie machten abgefressene, unappetitliche Tischlandschaften haltbar und damit zu Kunst. Damals fand ich das widerwärtig und dekadent. Auch Schimmel, Vergammelung, ausgestellte Fäulnis, das, was von geliebter Speise bleibt, wurde Objekt. Spörri hatte sogar ein paar Jahre lang ein Restaurant. Ich wollte dort nie essen, das war ein Fehler. Ich hätte vielleicht etwas über geheime Sehnsüchte und den Schmerz darüber, daß sie nie gestillt werden, lernen können. Einem einst eßbaren Werk seines Kollegen Dieter Roth bin ich neulich begegnet. Sein wunderschönes Selbstbildnis als Löwe hält jetzt schon über ein halbes Jahrhundert, obwohl es aus Schokolade ist. Die hat sich, jedenfalls dem Augenschein nach, in eine Art uralten Marmor verwandelt. Seinem vom Künstler gewünschten Untergang durch Schokoladenmotten hat es getrotzt, es steht in seinem Glaskasten im neuen unterirdischen Saal des Frankfurter Städelmuseums wie eine edle Ausgrabung.
    Als es bei meiner sehr alten Großmutter ans Sterben ging,
wollte sie dunkles Bier und etwas, das wie Gans klang. Das dunkle Bier habe ich ihr besorgt. Meines Wissens hatte sie sowas in ihrem ganzen Leben nicht angerührt. Überhaupt keinen Alkohol! Allerdings galt für sie Eierlikör als Nachspeise und Melissengeist als Medizin. Wovon sie am Ende ihres Lebens träumte, von welcher Speise, konnte sie mir nicht mehr sagen. Auf die Frage, ob sie ein Stück Gänsebraten haben wolle, schüttelte sie jedenfalls energisch den Kopf.
    Diesseitsessen und Jenseitsessen, vielleicht finden sie irgendwann zueinander. Dann verwandeln sich Manna, Nektar und Ambrosia in Fett, Stockfisch, altes Brot mit Hering, in Kartoffelpampe oder eine geheimnisvolle Gans. Bei meinen Erkundungen, die Liebe zu merkwürdigen Speisen betreffend, hat niemand von Kaviar, Austern, Champagner oder sonstigen Banalitäten geredet. Manche hatten ihre
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