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Roter Staub

Roter Staub

Titel: Roter Staub
Autoren: Paul J. McAuley
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seltsamer halbgeschmolzener Maschinerie unter
einem sternenübersäten Himmel, durch den sich fünf
Monde schwangen.
    »Sieh mal hier, ein Immergrün! Und hier ist eine
Lichtnelke, ein sehr großes Kissen. Aber dies hier, ich
weiß nicht, was dies ist. Wei Lee!«
    Lee fragte, wie es aussähe, und Xiao Bing sagte:
»Schwarze schimmernde Blätter in einer großen
Rosette, eine flache Blütenähre, bedeckt mit etwas, ich
weiß nicht, das aussieht wie Silberstaub. Die Ähre
leuchtet so hell, und um die Rosette herum ist ein Flecken feuchten
Bodens, überkrustet mit blaugrünen Algen. Es ist
wunderschön, wie eine Maschine. Komm her, sieh’s dir doch
an, Wei Lee!«
    »Das brauche ich nicht. Es ist eine Eis-Sonnenblume, eine von
Cho Jinfengs Spezies. Sie hat damals dabei geholfen, die Polarkappen
zu schmelzen. Sehr verbreitet oberhalb von dreitausend Metern. Ich
schätze, was du da hast, ist ein Überbleibsel aus den
frühen Tagen.«
    Guoquiang gähnte. »Vielleicht kehrt sie von den Bergen
zurück. Die Winter sind kälter, als sie einstmals
waren.«
    »Vielleicht. Setzt du dich niemals hin, Bing?«
    »Ich habe den ganzen Winter herumgesessen. Sieh dir das an!
Dort, dort, da verschwindet sie!«
    Lee sah sie sogleich, eine Eismaus, die in den Schatten eines
unterhöhlten Findlings auswich, den Schwanz mit dem Büschel
hochgehoben wie eine Antenne. Frühling, und die Tiere, die den
langen Winter über geschlafen oder die, wie die Eismaus, weder
tot noch lebendig da gelegen hatten, die Blutgefäße und
Körperhöhlen mit Eisgel erfüllt, welche von einer
Minute auf die andere durch Antifrost-Peptide gebildet worden waren,
waren jetzt alle springlebendig. Sie liefen herum, fraßen und
brüteten ganz ungeachtet der Menschen, die sie hierhergebracht
hatten. Mäuse und Menschen: Menschen und die Zehntausend
Jahre.
    Die Zehntausend Jahre und die Conchies.
    Vielleicht hatte die Propaganda der Conchies recht, vielleicht war
der Goldene Pfad der einzige Weg, die unausweichliche Stufe in der
Evolution der Intelligenz. Viele, wie Xiao Bing, schlossen ihn
begierig in die Arme, verpfändeten frühen Tod gegen das
Privileg, ihre eigene private Nische in den Goldenen Inseln des
Himmels einzurichten, die jenseits der Grenze im Informationsraum
lag. Aber Lee verstand die Conchie-Ideologie nicht, die darauf
beharrte, daß der Mars zu seinem ursprünglichen Status
zurückkehren müsse, daß nach all diesen Jahren das
Terraform-Projekt ein Fehlschlag sein durfte. Wenn der irdische
Konsens ein ebenso mächtiger Verbündeter war wie die
Zehntausend Jahre behaupteten – warum fürchtete er sich vor
den Lebenden? Warum sonst wollte er alles, das lebte, im
Informationsraum versammeln?
    Guoquiang war eingeschlafen, während Lee über dies
nachgedacht hatte. Xiao Bing kam herüber, durchwühlte seine
Taschen und förderte schließlich eine Schutzbrille zutage.
»Ist deine letzte Chance, den Bibliothekar zu
überprüfen«, sagte er. »Wenn wir über den
Rand gehen, werden wir nicht mehr empfangen.«
    Lee nahm die Brille. »Ich habe heute morgen
nachgeprüft.«
    »Ist ein gutes Programm. Es wird deine Eltern
finden.«
    »Vielen Dank, Xiao Bing.«
    Xiao Bing verbeugte sich. »Der Entwurf hat Spaß
gemacht. Aber wie alle Programme, die Intelligenz nachahmen,
benötigt es positive Verstärkung. Es benötigt
Ermutigung. Ich werd’ losgehen und mir etwas mehr von der
Wüste einprägen, ehe wir wieder losziehen«, fügte
er hinzu und wanderte davon.
    Lee beobachtete Xiao Bing eine Weile, wie er umherstreifte. Dann
zog er sich die Brille über, und der Informationsraum rollte
hoch, noch während er Kopfhörer und Mikrofon anbrachte. Der
Bibliothekar wandte sich ihm zu. Er hielt ein voluminöses Buch
an die Brust gepreßt.
    Er war ein großer dünner Mann in einer dunklen
Seidenrobe, deren Kapuze er über das scharf ausgeprägte
Gesicht mit den hohen Wangenknochen gezogen hatte. Es war ein
Spiegelbild von Lees eigenem Gesicht, eine Marotte, die Lee jetzt
bedauerte, aber es war unmöglich, Xiao Bing darum zu bitten, sie
zu entfernen; daß Bing den Bibliothekar geschrieben hatte, war
schon Gefallen genug.
    Der Bibliothekar sagte: »Seit wir zuletzt miteinander
gesprochen haben, habe ich nichts Neues entdeckt, Meister, aber ich
habe Zugriff zu einer vielversprechenden Ebene gefunden. Jeden Tag
habe ich das Gefühl, deinen Eltern näher zu
kommen.«
    Hinter dem Bibliothekar hob sich Reihe um Reihe angeketteter
ledergebundener Bände in die Dunkelheit. Ein
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