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Rom: Band 1

Rom: Band 1

Titel: Rom: Band 1
Autoren: Emil Zola
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Schreckensgemach drang, in dem sich soeben eine Mutter samt ihren fünf kleinen Kindern aus Hunger und Verzweiflung getötet hatte. Dieses Drama ließ ganz Paris wahrend einiger Stunden erschauern. Kein Möbel mehr im Zimmer, kein Stück Wäsche, alles, Stück für Stück hatte bei dem nächsten Trödler verkauft werden müssen. Nur das Kohlenfeuer rauchte noch. Auf einem halbleeren Strohsack war die Mutter niedergesunken, sie hatte bis zuletzt ihr Jüngstgeborenes, einen drei Monate alten Säugling, genährt, und ein Blutstropfen perlte noch auf der Brust, der sich die Lippen des kleinen Toten gierig entgegenstreckten. Auch die beiden kleinen Mädchen, drei und fünf Jahre alt, zwei hübsche Blondköpfe, schlummerten dort, Seite an Seite, den ewigen Schlaf. Von den beiden etwas älteren Knaben war der eine, den Kopf in die Hände gedrückt, neben der Wand kauernd zu Grunde gegangen, während der andere auf dem Fußboden ausgerungen hatte, als wenn er sich auf den Knieen hatte zum Fenster schleppen wollen, um es zu öffnen. Die herbeigeeilten Nachbarn erzählten die alltägliche, die schreckliche Geschichte: ein langsamer Ruin, der Vater fand keine Arbeit, verfiel vielleicht dem Trunk; der Hausbesitzer wollte nicht mehr warten, drohte mit Exmission; da verlor die Mutter den Kopf, beschloß zu sterben und bestimmte auch ihre Brut, mit ihr zu sterben, während ihr Mann sich seit dem frühen Morgen vergebens die Füße auf dem Pflaster wund lief, um Arbeit zu finden. Als der Polizeikommissär kam, um Erhebungen anzustellen, kehrte auch der Unglückliche heim. Und als er gesehen, als er alles begriffen hatte, da schlug er zu Boden wie ein mit der Keule geschlagener Stier. Er fing an zu heulen und ein so unaufhörliches Wehklagen, solche Todesschreie drangen aus seinem Munde, daß die ganze Gasse, von Entsetzen ergriffen, mitweinte.
    Dieser furchtbare Aufschrei einer zum Tode verurteilten Rasse, die in Not und Hunger untergeht, klang immer wieder in Pierres Ohren, in seinem Herzen wider, er nahm ihn überall mit sich mit. An jenem Abend konnte er weder essen noch einschlafen. War es möglich, daß ein solcher Greuel, eine so vollständige Armut, ein so schwarzes, nur mit dem Tode endigendes Elend mitten in dem vor Reichtum strotzenden, genußtrunkenen Paris, das für Vergnügungen Millionen auf die Straße streute, vorkommen konnte? Wie, auf der einen Seite so ungeheure Vermögen, so viele unnütze, befriedigte Launen, so viele mit Glücksgütern überschüttete Existenzen – und auf der andern Seite eine so wütende Armut, daß es sogar am bloßen Brot mangelte und alle Hoffnung geschwunden war, so daß die Mütter samt ihren Säuglingen sich töten mußten, da sie ihnen nichts mehr zu geben hatten als das Blut ihrer versiegten Brüste! Eine wilde Empörung stieg in ihm auf. Einen Augenblick kam es ihm zum Bewußtsein, wie nutzlos und trügerisch die Wohlthätigkeit war. Wozu thun, was er that, wozu die Kleinen von der Straße auflesen, den Eltern Hilfe bringen, die Leiden der alten Leute verlängern? Das soziale Gebäude war in seinen Grundfesten verfault, alles mußte in Kot und Blut zusammenbrechen. Nur ein einziger, großer Akt der Gerechtigkeit konnte die alte Welt hinwegfegen, um dann die neue wieder aufzubauen. In dieser Minute erkannte er den ewigen Bruch, die unheilbare Krankheit, den todbringenden Krebs so deutlich, daß er die Anwendung und Gewaltmaßregeln begriff. Ja, er selbst war bereit, anzuerkennen, daß ein vernichtender und reinigender Orkan kommen, die Erde durch Eisen und Feuer regenerirt werden müsse wie einst, da der schreckliche Gott den Brand vom Himmel herabsandte, um die verfluchten Städte wieder neu gesunden zu lassen.
    Als der Abbé Rose ihn an jenem Abend schluchzen hörte, kam er zu ihm ins Zimmer und schalt ihn väterlich aus. Dieser Mann war ein Heiliger, von unendlicher Sanftmut und Hoffnungsfreudigkeit. Wie, verzweifeln, da doch das Evangelium existirt! Genügt die göttliche Grundregel »Liebet einander« nicht zur Rettung der Welt? Ihm graute vor Gewaltthaten. Wie groß das Uebel auch sei, sagte er, man würde ihm rasch ein Ende machen, sobald man umkehren, zu der Zeit der Demut, Einfachheit und Reinheit zurückkehren wollte, die bestand, da die Christen als unschuldige Brüder mit einander lebten. Welch köstliches Bild entwarf er von dieser evangelischen Gesellschaft, deren Wiederkehr er mit so ruhiger Heiterkeit schilderte, als müsse sie sich schon am nächsten Tage
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