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Richter 07

Richter 07

Titel: Richter 07
Autoren: Gulik
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Liege auszubreiten. Er hatte ein breites Gesicht mit schweren Kinnbacken, doch war er mit Ausnahme eines kurzen Bärtchens glatt rasiert. Ursprünglich von Beruf Straßenräuber, hatte er sich vor Jahren bekehren lassen und war in die Dienste des Richters Di getreten. Als ein Meister im Boxen und Ringen hatte er sich für den Richter bei der Festnahme von Schwerverbrechern sehr nützlich erwiesen und gar manche kühne, gefahrvolle Tat vollbracht.
    »Du kannst hier auf der Liege schlafen«, sagte der Richter zu ihm. »Es ist ja nur für eine Nacht; so ersparst du dir die Suche nach einem Quartier anderswo.«
    »Oh, ich werde schon die richtige Unterkunft finden!« entgegnete ihm sein Gehilfe unternehmungslustig.
    »Solange du nicht all dein Geld für Wein und Weiber ausgibst!« bemerkte Richter Di sarkastisch. »Die Paradiesinsel lebt von Spiel und käuflicher Liebe; hier versteht man sich aufs Rupfen!«
    »Aber nicht mich!« grinste Ma Jung. »Warum nennt man den Ort eigentlich Paradiesinsel?«
    »Weil er von Wasserläufen umgeben ist, natürlich. Aber jetzt zurück zur Sache. Präg dir den Namen der Hauptbrücke ein, Ma Jung, jenen steinernen Bogen, über den wir bei unserer Ankunft kamen. Man nennt sie die Seelenwandlungsbrücke, weil die hektische Luft auf der Paradiesinsel jeden Neuankömmling in einen leichtsinnigen Tunichtgut verwandelt! Und du hast weiß Gott eine Menge Geld zum Verjubeln. Betrug die Erbschaft von deinem Onkel in der Hauptstadt nicht zwei stattliche Goldbarren?«
    »So ist’s! Doch dieses Gold rühr’ ich nicht an, Herr! Dafür will ich mir, wenn ich alt werde, ein Häuschen und ein Boot in meinem Heimatdorf kaufen. Aber nebenher habe ich noch zwei Silberbatzen, und mit denen will ich mein Glück versuchen!«
    »Sorg nur dafür, daß du morgen früh vor dem Frühstück hier an Ort und Stelle bist. Wenn wir zeitig aufbrechen, können wir diese nördliche Gegend des Tschin-hwa-Bezirkes in vier Stunden oder so hinter uns gebracht haben und um die Mittagszeit in der Stadt Tschin-hwa eintreffen. Dort muß ich meinem alten Freund, Amtmann Lo, einen Höflichkeitsbesuch abstatten. Unmöglich kann ich durch seinen Bezirk reisen, ohne an seiner Tür anzuklopfen. Nachher reiten wir heim nach Pu-yang.«
    Sein eisenstarker Gefolgsmann verneigte sich und entbot dem Richter den Gutenachtgruß. Als er an der reizenden jungen Dienerin vorbeiging, die den Tee hereinbrachte, zwinkerte er ihr unzweideutig zu.
    »Ich trinke den Tee draußen auf der Veranda«, sagte der Richter zu dem Mädchen. »Ihr könnt mir meinen abendlichen Reis ebenfalls dorthin stellen, sobald er bereit ist.«
    Als das Mädchen gegangen war, trat er auf die Veranda hinaus. Er versenkte seinen großen Körper in einen dort neben einem kleinen Tisch stehenden Bambusstuhl, streckte seine steifen Beine wohlig aus und begann den heißen Tee zu schlürfen. Dabei überdachte er mit Genugtuung, daß während seines vierzehntägigen Aufenthalts in der Hauptstadt alles nach Wunsch gelaufen war. Vom hauptstädtischen Gericht hatte er den Auftrag bekommen, weitere Einzelheiten in einem Fall beizubringen, den er vor einem Jahr aufgeklärt hatte und in den ein buddhistischer Tempel seines Bezirks verwickelt war. Jetzt hatte er es mit der Rückkehr auf seinen Posten eilig. Nur schade, daß ihn die Überschwemmungen gezwungen hatten, den Umweg durch den Tschin-hwa-Bezirk zu machen, was indessen nur eine Verzögerung von einem Tag bedeutete. Obwohl ihm die leichtlebige Atmosphäre auf der Paradiesinsel widerwärtig war, schätzte er sich glücklich, diese ruhige Oase neben einer erstklassigen Herberge gefunden zu haben. Gleich wollte er ein kurzes Bad nehmen, seine einfache Abendmahlzeit verzehren und sich einer verdienten Nachtruhe hingeben.
    Als er sich in seinem Stuhl gerade zurücklehnte, fuhr er plötzlich zusammen und erstarrte. Er hatte das bestimmte Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Er wandte den Kopf und überflog das Wohnzimmer in seinem Rücken mit einem schnellen Blick. Niemand war da. Er stand auf und ging hinüber an das vergitterte Fenster des Roten Zimmers. Er schaute hinein – es war leer. Dann trat er ans Geländer und durchsuchte scharfen Auges das dichte Gebüsch, das sich am erhöhten Verandaboden entlang hinzog. Soweit er sehen konnte, regte sich nichts in den dort lastenden tiefen Schatten. Auffallend war jedoch ein widerlicher Geruch, der aus verfaulendem Laub heraufzusteigen schien. Er setzte sich wieder. Vielleicht war
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