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Reinen Herzens

Reinen Herzens

Titel: Reinen Herzens
Autoren: Helena Reich
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tun.
    Skarlet überlegte den ganzen folgenden Tag, was sie tun sollte. Ihrer Freundin hatte sie am Abend zuvor nichts erzählt. Wie auch, auf einer Party mit Dutzenden von Leuten? Sie hatte nach dem Schreck im Büro die fröhliche Fete genossen und sich amüsiert, so gut sie konnte, bemüht, nicht mehr an das angsteinflößende Gespräch zu denken. Es war ein gelungenes Fest, das ihre Studienkollegin Meda Cyanová da auf die Beine gestellt hatte. Lauter fröhliche junge Leute, Skarlet hatte sich ausgezeichnet unterhalten. Mit einer jungen Frau hatte sie sich lose in den nächsten Tagen zu einem Frühstück verabredet. Sie war Reporterin bei der Prague Post , einer englischsprachigen Prager Wochenzeitung. Das interessierte Skarlet, sie hatte sich während ihres Examens überlegt, dass sie es mit Journalismus versuchen würde, falls sie keine Stelle in einer Kanzlei finden sollte, und die Prague Post hatte ganz oben auf ihrer Liste gestanden. Skarlet hatte nach dem Abitur ein Jahr als Au-pair in England verbracht und traute sich zu, auf Englisch zu schreiben. Dank ihres Vaters hatte sich die Option mit dem Journalismus allerdings erledigt. Aber mit der jungen Reporterin würde sie sich trotzdem treffen, sie war ihr sympathisch gewesen. Skarlet war erst spät nach Hause gekommen und hatte die Sache im Büro wohl in die Rumpelkammer ihres Bewusstseins verdrängt. Doch am frühen Morgen, noch bevor ihr Wecker geklingelt hatte, war sie hellwach und fragte sich, was in aller Welt sie tun sollte, damit dieser Engel nicht in den Himmel kam. Zur Polizei gehen, war ihr erster Gedanke gewesen. Während sie duschte und über das zufällig mitgehörte Gespräch nachdachte, erschien ihr die ganze Sache allerdings zunehmend unglaubwürdig. Sie musste das alles irgendwie missverstanden haben – immerhin waren es ja nicht ganze Sätze gewesen, sondern bloße Satzfetzen gedämpfter Stimmen. Wenn sie mit so einer Geschichte zur Polizei ginge, würde man sie dort bestenfalls auslachen. Sie wusste ja noch nicht einmal, mit wem ihr Chef da gesprochen hatte. Und über Beweise für das, was sie gehört hatte, verfügte sie auch nicht. Sie trocknete sich ab und zog sich an, noch immer unschlüssig, was sie tun konnte oder sollte. Eine weiße Bluse, das neue anthrazitfarbene Kostüm aus einem Seiden-Wolle-Gemisch, das ihre Mutter ihr zum Examen geschenkt hatte, dazu die schicken italienischen Pumps, die sie sich letzte Woche geleistet hatte. Sie betrachtete sich zufrieden im Spiegel. Strich sacht mit der Hand über die Perlenkette, die im kleinen Ausschnitt ihrer Bluse hervorblitzte. Perfekt. Eine junge, aufstrebende Rechtsanwältin – elegant und seriös. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zufrieden zu. Wenn sie zur Polizei ging, überlegte sie, und man ihr womöglich glauben würde – unwahrscheinlich, wie das war –, dann würde die Polizei ihren Chef mit ihrer Aussage konfrontieren. Und dann … dann bin ich meinen nagelneuen Job los. Dann war es das mit der aufstrebenden jungen Rechtsanwältin. Sie machte sich keine Illusionen, dass sie danach bei einer anderen Prager Kanzlei einen Job bekommen würde. Wahrscheinlich hätte sie zu allem Überfluss auch noch eine Anzeige wegen Verleumdung am Hals – wenn nicht noch Schlimmeres. Sie dachte an ihren Vater. Würde er ihr glauben, wenn sie ihm davon erzählte? Niemals, dachte sie betrübt. Er war stolz darauf, dass er seine Anwälte und Geschäftspartner auf Herz und Nieren prüfte, bevor er sich mit ihnen einließ. Er würde niemals glauben, dass sein Anwalt Kafka die Finger in zweifelhaften Geschäften hatte, von einem Mordkomplott, das er schmiedete, ganz zu schweigen. Das war also auch keine Option. Ihr Blick glitt unschlüssig am Spiegel vorbei zum Fenster. Der Himmel war dunkelgrau, es schneite. Heute Abend, dachte sie nervös, du hast nicht mehr viel Zeit. Sie sah zurück zum Spiegel und hinunter zu ihren Schuhen. Sie zog sie aus. Sie würde die Schuhe mitnehmen und für den Weg zur Kanzlei ihre Stiefel anziehen. Das sah zwar nicht besonders elegant aus, war aber besser, als die neuen Schuhe zu ruinieren. Dieser Engel – wenn sie nur wüsste, wer das sein mochte? War das ein Nachname oder nur ein Spitzname? Sie seufzte irritiert. Je mehr sie darüber nachdachte, desto absurder klang alles. Sie bückte sich nach ihren Stiefeln, zog sie an und warf noch einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel, während sie ihren langen schwarzen Wollmantel anzog. Sie schnitt ihrem eleganten
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