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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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Kleiderschrank verzweifeln, sagte sie sich langsam vor. Das ist albern . Ohne weiter nachzudenken, griff sie nach dem knöchellangen, weißen Sommerkleid. Darin fühlte sie sich wohl. Mehr war nicht wichtig, beschloss sie, was zugleich die braunen Sandalen legitimierte, die sie unter dem Bett hervorsuchte.
    Mina hantierte noch im Bad, als Sumaya in die Küche ging und sich an den wackligen Esstisch setzte. Ihre Mitbewohnerin hatte natürlich recht. Normalerweise frühstückte Sumaya entweder gar nicht oder Toast mit Nutella. Doch an diesem Tag war sie bereits in aller Frühe einkaufen gewesen: arabisches Brot, ein Schälchen mit Olivenöl, eines mit getrocknetem Thymian, ein drittes mit ein paar grünen und schwarzen Oliven. Es war ihr zwar etwas peinlich, aber immer dann, wenn sie sich aus irgendeinem Grund ihrer Identität und Herkunft versichern wollte oder musste, oder wenn sie sich wappnen wollte, weil sie das Gefühl hatte, sich präsentieren oder bewerten lassen zu müssen, dann tat sie das über das Essen. Und zwar arabisches Essen. Ihr Essen. Ihr Erkennungszeichen, ihr Unterscheidungsmerkmal, ihre Erinnerungen.
    Kam zum Beispiel ihr Vater sie in Berlin besuchen, dann stellte sie mit einer Selbstverständlichkeit arabisches Essen auf den Tisch, als wüsste sie nicht einmal, was Nutella ist, dabei natürlich immer halb in Sorge, dass er sich über sie lustig machen würde, weil sie irgendetwas Unerhörtes anstellte wie gefüllte Weinblätter mit Jogurt zusammen zu servieren. Machte sich jemand aus ihrer palästinensischen Familie am Telefon über ihr gebrochenes Arabisch lustig, dann kochte Sumaya abends aus Trotz Maqluba, als müsste sie am folgenden Tag die Erntehelfer in den Olivenhainen verköstigen. Lud sie Kommilitonen ein, unterschied Sumaya, wie sie sogar sich selbstnur heimlich eingestand, wiederum sehr genau: Waren sie, was Mina, die Halbinderin war, wahlweise als Biodeutsche oder Weißbrote oder Kartoffeln bezeichnete, dann kochte sie arabisch; waren es jedoch Araber, Türken oder Mitglieder eines anderen Kulturkreises, die vielleicht eine eigene vage Vorstellung von levantinischer Küche haben könnten, dann beließ sie es bei einer kostspieligen Mischung Damaszener Nüsse: ein Statement, mit dem man nichts falsch machen konnte.
    Heute indes erwartete Sumaya keine Gäste, heute würde sie sich um eine Stelle bewerben. Allerdings würde es in dem Gespräch, das ihr bevorstand, zweifellos darum gehen, dass sie Araberin war. Und Muslimin.
    Sumaya trank einen Schluck von dem Tee, den sie ebenfalls eigens besorgt hatte. Bei ihrem letzten Besuch in Ramallah hatte sie heimlich nachgeschaut, was für eine Sorte ihre Tante Lubna eigentlich in den Kessel warf. Es war Ceylon-Tee, wie sie herausgefunden hatte. Und tatsächlich schmeckte der auch hier, in Berlin, am ehesten richtig  – vorausgesetzt, man trieb ein paar Blätter Minze auf. »Aber bloß keine Pfefferminze, hörst du, du musst richtige Minze nehmen!«, klang ihr Vater ihr dabei jedes Mal unweigerlich im Ohr. Natürlich, Baba, was denkst du denn?
    Während sie ihr Brot abwechselnd in Öl und Thymian tunkte, rekapitulierte Sumaya weiter. Sie erinnerte sich noch sehr genau an den Bruch, den es unter den Lutfi-Anhängern in ihrem Freundeskreis und darüber hinaus gegeben hatte, als Lutfi Latif vor fast genau einem halben Jahr, die Neuwahlen waren gerade beschlossen worden, ankündigte, er wolle sich um ein Bundestagsmandat bewerben, und zwar auf der Liste der Berliner Grünen. In den Zeitungen war damals nachzulesen gewesen, dass die Partei ihn darum gebeten hatte. Und er, so hieß es in den Berichten übereinstimmend, habe erwidert, dass ihm der Gedanke selbst auch schon gekommen sei. Zwar habe er eigentlich noch ein wenig warten wollen, aber vielleicht sei ja jetzt eine gute Gelegenheit.
    Es gab Lutfi-Anhänger, die ihm daraufhin die Gefolgschaft kündigten. Sie fanden, dass er sich verkauft habe, dass es ihm in Wahrheit doch bloß um Macht gehe, dass er eitel sei, oder nochschlimmer: dass auch Lutfi Latif nur ein Ziel kenne, nämlich die höchste Stufe der Anerkennung durch die »Mehrheitsgesellschaft« zu erklimmen, und zwar selbst um den Preis, sich dafür von ihnen, von »seinen Leuten«, zu entfernen.
    Fadi, in dieser Reihenfolge ein Freund Sumayas und ein Cousin, der ebenfalls in Berlin lebte, gehörte zu dieser Gruppe. »Ich fasse es nicht, er hat sich entschlossen, den edlen Wilden zu geben«, hatte Fadi enttäuscht gesagt – und
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