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Radikal

Radikal

Titel: Radikal
Autoren: Yassin Musharbash
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schlechten Ruf des Weddings ebenso wie mit dem Umstand, dass dieser nicht unberechtigt war.
    Er konzentrierte sich erneut und zwang sich zu einem weiteren Anlauf: Also , fragte er sich halblaut, was kann der Typ mit dem Kilogramm anfangen?
    Um den neuen Hauptbahnhof in die Luft zu sprengen, würde es nicht reichen. Klar, die Laube könnte man damit schon mächtig demolieren. Aber viel mehr war nicht drin. Ein Auto? Sicher, die Karre würde brennen. Aber nicht meterhoch in die Luft fliegen wie im Fernsehen. Nein, dachte Niklas, im Grunde hatte er nur einen Riesenböller vertickt. Einen gigantischen Chinaböller, Triple-A, was sollte daran schon sein? Und abgesehen davon, galoppierten seine Gedanken jetzt weiter: Wenn jeder, der einen Chemie-Leistungskurs besuchte, eine Herdplatte besaß, sich im Internet bewegen konnte und nicht völlig bescheuert war, TATP kochen konnte, hatte er dann im Grunde nicht nur eine Dienstleistung erbracht? Er war bezahlt worden, weil er dem Kunden Zeit gespart hatte. Fuck it , Khaled hätte es doch locker selbst kochen können, wahrscheinlich hatte er es bloß eilig gehabt, womit auch immer. Niklas hatte also eigentlich nichts Unrechtes getan, er hatte ja sogar alle Zutaten legal erworben. Für das, was Khaled mit dem Zeug anfängt, ist er immer noch selbst verantwortlich, beschloss Niklas. Und nicht ich.
    Das Ergebnis seiner Abwägungen gefiel ihm. So sehr, dass Niklas, bevor er es sich wieder anders überlegen konnte, zurück in sein Zimmer ging. Er griff sich seinen blauen Kapuzenpullover und fand nach kurzer Suche auch die abgelegte lederne Aktentasche seines Vaters, die er als Schultasche benutzte und in die er das dicke Bündel 50-Euro-Scheine stopfte, die, von einem Gummiband zusammengehalten, auf dem Schreibtisch gelegen hatten. Er würde jetzt zum Chemie- LK gehen.
    Während er Sekunden später die Wohnungstür ins Schloss fallen ließ, schoss ihm allerdings noch der letzte Satz durch den Kopf, den Khaled gesagt hatte, bevor er unter den dunklen Weiden in die Nacht verschwunden und den Weg Richtung S-Bahnhof Wollankstraße eingeschlagen hatte: »Wir danken Ihnen!« – Wieso wir , fragte sich Niklas, als knatternd der Bus anfuhr.

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II
    Sumaya, kleiner Himmel . Ein schöner Name, das hatte sie immer gefunden. Aber nun, da sie direkt nach dem Aufstehen und noch ungeduscht vor dem großen weißen Standspiegel in ihrem Badezimmer stand, dachte sie: Großer Himmel hätte auch gepasst. Sumaya musste sich nicht anstrengen, sich hübsch zu finden. Dass sie insgesamt betrachtet ein bisschen mehr Körpermasse mit sich herumschleppte, als die gängigen Magazine postulierten, beunruhigte sie nicht über die Maßen. Sicher, es wäre nicht schlecht, von der Natur, der Vorsehung oder Allah mit einem effektiveren Metabolismus ausgestattet worden zu sein. Aber es war, wie es war. Und abgesehen davon war sie einigermaßen zuversichtlich, dass ihre grünen Augen und die dunkelbraunen Haare eine gewisse Ablenkung boten. Also tat Sumaya, was sie an jedem Morgen vor diesem Spiegel tat, bevor sie in die Dusche trat: Sie pfiff sich selbst anerkennend zu, und es war nur ein winziger Hauch Ironie dabei.
    Heute war freilich ein besonderer Tag, und die Selbstaufmunterung wichtiger als sonst. Eine Entscheidung stand an, und Sumaya hatte nicht gut geschlafen. Stattdessen hatte sie sich lange in ihrem Bett hin- und hergewälzt. Würde sie ihn überzeugen können? War sie überhaupt geeignet? Und was, wenn sie sich selbst überschätzte?
    Eigentlich glaubte sie das nicht. Sie war gut, und sie wusste, worauf es ankam. Oder war sich jedenfalls ziemlich sicher, dass sie es schnell genug herausfinden würde. Andererseits wollte sie diesen Job wirklich, und darum wäre es umso schlimmer, wenn sie sich in ihren Fähigkeiten täuschte. Der Posten, um den es ging, erschien ihr nämlich nicht nur als ein folgerichtiger nächster Schritt, sondernpotenziell sogar als der erste große Schritt zu dem Leben, zu dem sie sich aufgerufen fühlte: einem sinnvollen Leben.
    Während sie sich abtrocknete, erinnerte Sumaya sich daran, wann sie zum ersten Mal von Lutfi Latif gehört hatte. Das musste vor etwa einem Jahr gewesen sein. Am Anfang, so erschien es ihr jetzt, war da nur ein plötzlich allgegenwärtiges Raunen gewesen: »Hast du schon von diesem Typen aus Kreuzberg gehört?«, fragte auf einmal jeder jeden. Der hat richtig was vor, verkündeten diejenigen, die schon mehr zu wissen glaubten oder es jedenfalls
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