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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss
Autoren: Bettina Broemme
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Parallelstraßen von Flora entfernt. Carina, die ihr pinkfarbenes Fahrrad mit den eigenhändig aufgemalten weißen Margeriten neben Flora herschob, erwies sich als muntere Erzählerin, die Flora einen Abriss ihres neuen Lebensumfeldes lieferte – das letztlich schauderlich spießig und langweilig zu sein schien, andererseits von Carina so witzig geschildert wurde, dass Flora ständig lachte. Dann musste sie in allen Einzelheiten erzählen, wie im Kontrast ihr Leben in der Weltmetropole Rio ausgesehen hatte. Zu ihrer Verblüffung mussten die Mädchen feststellen, dass es sogar eine ganze Reihe Gemeinsamkeiten in ihrem Alltag gab. Schule, na klar, aber auch die Freizeitvergnügen waren nicht sehr unterschiedlich: ins Kino gehen, zum Tanzen, am Baggersee (respektive Strand) chillen, mit Freunden abhängen.
    »Na ja, obwohl«, sinnierte Carina. »Ich mein, so ein Strand mit Blick auf den Atlantik ist natürlich schon was anderes als der Dechsi.«
    »Der was?«
    »Der Dechsendorfer Weiher. Da rennen im Sommer alle hin.«
    »Immerhin kannst du hier sicher sein, dass dich auf der Busfahrt keiner um dein Handy erleichtert oder dir am Badesee die Kamera klaut«, sagte Flora. Carina sah sie verblüfft an. »Echt? Nee, oder? Das ist dir passiert? Ist ja krass.«
    Flora machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, so was gibt es ständig. Du darfst am Strand halt nicht einschlafen. Das ist mir einmal passiert und prompt war meine Tasche weg samt der 200 Real. Knapp 100 Euro.«
    »Und im Bus? Bist du da auch ausgeraubt worden?«
    »Na ja, ausgeraubt nicht gerade. Die wollen halt dein Handy. Ich hatte immer ein altes in meiner Handtasche, das hab ich dann rausgegeben. Das, was ich benutzt habe, hatte ich immer irgendwo in einer engen Hosentasche oder so versteckt.«
    »Boah, das ist aber schon schräg irgendwie. Und wenn du abends unterwegs warst? War das nicht auch saugefährlich? Bist du mal in eine Schießerei geraten oder so?«
    Flora lachte laut. »Quatsch! Rio ist doch nicht der Wilde Westen. Klar gibt es Viertel, da weiß man genau, dass man abends nicht hingeht. Und ich hab oft ein Taxi genommen oder Papai hat mich abgeholt.«
    »Wer?«
    »Mein Vater. Und die Gegend, wo wir gewohnt haben, in Urca, das ist gleich neben dem Zuckerhut, die ist eh so mit die sicherste in ganz Rio.«
    Carina wiegte nachdenklich ihr schmales Gesicht und strich wie so oft die pinke Strähne hinters Ohr, wo sie sich sofort befreite.
    »Aber so mal nachts von einer Fete mit dem Fahrrad nach Hause fahren?«
    »Ähhh, nee. Bestimmt nicht. Außerdem sind die Entfernungen ja ganz schön groß. Aber wenn du da aufwächst, dann weißt du ja gar nicht, wie es anderswo normal ist. Ich hab da nicht drüber nachgedacht, dass meine Eltern meinen Bruder und mich überallhin kutschiert haben. Auch zur Schule. Das war total praktisch, da konnte ich morgens im Auto immer noch schnell ein paar Hausaufgaben machen.«
    Carina lachte.
    »Na, da musst du dich hier ja ganz schön umstellen.« Flora nickte. Sie deutete auf das große Einfamilienhaus aus den 1920er-Jahren, vor dem sie nun stehen geblieben war.
    »Magst du mit reinkommen?«, fragte sie. »Hier wohn ich.«
    »Wow.« Carina pfiff anerkennend. »Prächtige Bleibe. Ich bin hier schon oft vorbei und hab immer gedacht, was für Typen wohl in so einem Ding wohnen.«
    »Das ist das Haus meiner Großeltern. Sie sind beide schon tot und mein Vater hat das Haus halt geerbt. Er hat’s total umbauen lassen innen. Krieg keinen Schock, wenn du mein Zimmer siehst, okay?«
    Nach dem ersten Blick in die rosa Albtraumhöhle ließ sich Carina auf die Knie fallen und betrat so das Zimmer.
    »Oh, is das sön hier«, quiekte sie mit Kleinmädchenstimme. »Hassu auch Barbiepuppen? Oder Lillifee? Jippie, alles rosa! Rosa, rosa, rosa!« Sie führte einen Knietanz auf und Flora ließ sich kreischend auf ihr Bett fallen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen vor Lachen. Es war das erste Mal, seit sie aus Brasilien fort war, dass sie sich frei und unbeschwert fühlte. Sie war überglücklich, dass ihr irgendein unbekannter Schicksalsgott ausgerechnet Carina als Klassenkameradin zugeführt hatte.
    Den Nachmittag über, bewaffnet mit großen Tassen Milchkaffee, Schokolade und einer Tüte Gummibärchen, die Flora ihrem kleinen Bruder geklaut hatte, erzählten sie sich in rosa Licht eingetaucht ihr Leben.
    Carina berichtete, dass ihre Mutter Schauspielerin am Markgrafentheater war und ihr Stiefvater dort Chefdisponent. Flora war
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