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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss
Autoren: Bettina Broemme
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sein, gleichzeitig ertrage sie die Anwesenheit von anderen Menschen nur schwer. Sie fürchtet, dass die ihr vertrauten und geliebten Menschen sie verlassen könnten und sie erneut mit dem beklemmenden Gefühl der Einsamkeit nicht zurechtkäme.…«
    Knapp zwei Wochen später begann das neue Schuljahr und Flora stand mit pochendem Herzen vor dem Respekt einflößenden Portal des Christian-Ernst-Gymnasiums. Sie versuchte, flach zu atmen, denn über dem Schulgelände lag ein süßlich-würziger Geruch, der sie beinahe zum Würgen brachte und den sie zunächst nicht einordnen konnte. Sie sah sich um und entdeckte auf der gegenüberliegenden Straßenseite das klobige Gebäude einer Brauerei, aus deren Schornstein es gelblich dampfte. Der dumpfe Braugeruch drängte sie, das Schulhaus endlich zu betreten. Um sie herum rempelten, rannten und flanierten Schüler durch die spätsommerliche Morgensonne in das Innere des Gebäudes. Flora wunderte sich, wie hässlich und ungepflegt viele von ihnen aussahen. Ausgeleierte Jeans und Sweatshirts, unmodische Turnschuhe, ungewaschene Haare und schrecklich stümperhaft, viel zu grell geschminkte, runde Mädchengesichter, wohin sie auch blickte. Allerdings hatte sie den Eindruck, man hielte sie selbst zumindest für ein Marsmännchen, so unverhohlen wurde sie von allen Seiten gemustert. Dabei war Flora wie immer sehr dezent geschminkt, hatte ihre wallenden schwarzen Locken mit einem Gummi zum Zopf gebändigt und trug schlichte, aber wie sie fand, coole Klamotten. Enge Jeans und weißes Hemd mit zartem Spitzenbesatz, dazu eine alte olivgrüne Armeetasche ihres brasilianischen Großvaters für die Schulbücher, die ihr jeder Vintage-Freak sofort aus den Händen gerissen hätte. Erst als ihr auffiel, wie blass und käsig viele Schüler aussahen, wurde ihr bewusst, dass sie sicher auch wegen ihrer Hautfarbe so angestarrt wurde. In Brasilien gehörte sie mit ihrem karamellfarbenen Teint zwar auch nicht zur Mehrheit, aber ihre Hautfarbe war keine Kategorie, nach der man sie beurteilte. Hier aber wurde sofort die Schublade mit der Aufschrift »exotisch« geöffnet.
    Flora hatte versucht, sich auszumalen, wie der erste Schultag sein würde – es gab eine optimistische und eine pessimistische Variante. Die optimistische besagte, dass eine freundliche Lehrerin sie in eine nicht zu große Klasse mitnahm, in der ihr freundliche Gesichter interessiert entgegenlächeln würden. Die pessimistische Variante dagegen stellte sich als deutlich realistischer heraus: Flora irrte geraume Zeit durchs große Schulhaus mit seinen langen Gängen, bevor sie das angegebene Klassenzimmer fand. Eine Lehrkraft konnte sie noch nirgends entdecken. Sie spähte ins Zimmer hinein, in dem gut und gerne 30 Schüler saßen. Während ihr die Mädchen ziemlich rasch den Rücken zuwandten, stießen sich die Jungs an und begafften sie gleichermaßen unverhohlen wie vorpubertär. Nur ein zartes, sehr schlankes Mädchen mit blonden Haaren, die ihr etwas wirr vom Kopf abstanden, und ausdrucksstarken, großen hellblauen Augen lächelte ihr zu und nickte. Am rechten Rand der Unterlippe baumelte ein schlichter Piercing-Ring. Mit einer leicht unsicheren Bewegung strich sich das Mädchen eine einzelne lange pinke Haarsträhne aus dem Gesicht, die ihr jedoch sofort wieder vor die Augen fiel. Dankbar lächelte Flora zurück und sah sich nach einem freien Platz um. Das Mädchen winkte ihr zu und deutete auf einen freien Stuhl in der Nebenbank.
    »Hi«, sagte das Mädchen gedehnt. »Ich bin Carina. Und du?«
    »Flora«, sagte sie verlegen und ließ den Blick über die Mitschüler wandern. Zwei Jungs drei Reihen weiter vorne hatten die Köpfe zusammengesteckt, tuschelten und sahen zu ihr herüber.
    »Mach dir nichts draus«, sagte Carina. »Leider sind das hier alles ziemlich dämliche Spacken, die man am besten ignoriert.«
    »Spacken?«, fragte Flora unsicher nach.
    »Oh, Idioten«, beeilte sich Carina zu erklären. »Woher kommst du? Bist du keine Deutsche?«
    »Brasilien«, erklärte Flora knapp. »Ich bin aus Brasilien. Aus Rio de Janeiro.« Und sie spürte, wie ihr das Heimweh die Kehle zudrückte.
    »Cool«, entgegnete ihre Sitznachbarin. »Dafür sprichst du aber klasse deutsch.«
    »Mein Vater ist Deutscher. Meine Mutter Brasilianerin. Ich bin in Rio auf die deutsche Schule gegangen.«
    »Boah, und jetzt hierher in dieses öde Kaff – das ist doch sicher total ätzend, oder?«
    Flora lächelte zum ersten Mal. Sie hätte nicht
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