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Rachekuss

Rachekuss

Titel: Rachekuss
Autoren: Bettina Broemme
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Möbel, die noch mehr Weite suggerierten. Für Leticia hatte der Vater im Souterrain ein Atelier einrichten lassen, das zu einer eigenen Terrasse in den Garten führte, auf der sie ihre großen, schweren Skulpturen würde bearbeiten können. Über die ganze Hausbreite war hier unten Glas eingesetzt worden, sodass es im Atelier hell genug sein würde. Auch Lucas war glücklich über sein großes Kinderzimmer voller Fußballer-Plakate, Fußballer-Bettwäsche und Fußballer-Teppich. Mit Indianergeheul stürzte er sich auf das schwarze Auswärtstrikot der deutschen Nationalmannschaft, das auf dem Bett ausgebreitet lag. Er hatte sich in Rio hauptsächlich mit der Frage gequält, ob er in Deutschland auch weiterhin Fußball spielen könnte. Sein Vater hatte ihn daran erinnert, dass die Deutschen bei der letzten WM deutlich weiter gekommen waren als die Brasilianer und dass einer der berühmtesten deutschen Fußballer – nämlich Lothar Matthäus – in Erlangen geboren worden war. Das beruhigte Lucas ziemlich.
    Für seine Tochter hatte »Papai«, wie die Kinder sagten, das Dachgeschoss reserviert. Mit eigenem Badezimmer. Flora war beeindruckt. Gestand man ihr vielleicht doch langsam zu, dass sie ihrer Volljährigkeit in schnellen Schritten entgegenging? Erwartungsvoll öffnete sie die Tür zu ihrem neuen Reich. Der Schock hätte größer nicht sein können. Rosa, sie sah nur Rosa, in allen erdenklichen Schattierungen: die Wände, der Flokati-Teppich, die Vorhänge, das große Lümmelsofa, der Drehstuhl und sogar die Schreibtischplatte. Türkisfarbene Kissen sollten das Quietschen des rosa Albtraums wohl etwas abmildern, ebenso wie ein Wandtattoo in Form einer riesigen weißen Orchidee über dem Bett. Flora aber kam es vor, als würde alles Türkise, alles Weiße, ja sie selbst vom Pink verschlungen werden.
    »Toll, oder?!«, strahlte Theo und legte den Arm um ihre Schulter. Flora machte sich los und rannte hinunter Richtung Erdgeschoss.
    »Zum Kotzen«, schrie sie. »Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte: Ich bin 17, nicht sieben!«
    Sie wusste nicht so recht, wohin, nur raus musste sie, raus aus diesem Kleinmädchenalbtraum. Sie öffnete die Haustür und lief in Richtung Gehweg. Die kalte Luft klatschte ihr ins müde Gesicht, doch der Nieselregen kam ihr im Moment wie eine beruhigende Dusche vor. Sie sah die menschenleere Hofmannstraße hinauf und hinunter, wusste aber nicht so recht, wohin sie sich wenden sollte. Alles wirkte so aufgeräumt und gepflegt, die grünen Bäume, die exakt geschnittenen Hecken, die rausgeputzten Häuser. Irgendwie vertrauenerweckend und abstoßend zugleich. Flora trat hilflos, aber mit voller Wucht in die Hecke neben der Einfahrt und kauerte sich dann auf den Bürgersteig, ignorierte die Nässe und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie sehnte sich so unendlich nach ihrem Zuhause, nach ihrem wunderschönen Haus in der Rua Urbano Santos – sogar nach den unzähligen Stromkabeln, die direkt vor ihrem Zimmerfenster vorbeiliefen, den Schlingpflanzen, die kleine Bäumchen und Straßenmasten gefangen nahmen, und den immer etwas ausgetrockneten Beeten, über die hinweg man direkt auf den kleinen Hafen mit den bunten Booten sah.
    »Komm rein, du erkältest dich«, hörte sie die Stimme ihres Vaters und spürte, wie er sie am Ellenbogen hochzog. Widerwillig folgte sie ihm hinein. Der Duft von Kaffee schlug ihr entgegen und sie spürte mit einem Mal, wie hungrig sie war.
    »Du darfst es auch giftgrün streichen oder schwarz oder was immer du willst«, sagte er. »Es tut mir leid. Die Innenarchitektin hat einfach gedacht, alle Mädels stehen auf Pink, egal wie alt. Und ich hatte einfach nicht genug Zeit, jede Kleinigkeit zu kontrollieren.«
    Flora schüttelte seinen Arm ab und beschloss, nicht mehr mit ihm zu reden. Wenn sie sowieso nur eine »Kleinigkeit« für ihn war, würde er das nicht weiter bemerken.
    »So, ihr Lieben«, sagte er, als sie alle in der riesigen, strahlend weißen Küche zusammengekommen waren. »Ich muss jetzt dringend ins Büro. Am besten ihr macht euch einen ruhigen Tag. Dann habt ihr die vier Stunden Zeitverschiebung bald wieder drin.« Er küsste sie alle, murmelte dabei: »Ich bin so froh, dass ihr endlich hier seid«, und verschwand für den Rest des Tages.

2. Kapitel
    Auszug aus dem psychiatrischen Gutachten, Prof. Dr. W. Metzler vom 02.12. d. J.
    »…Immer wieder fühle sich die Patientin von Verlassensängsten geradezu überrollt. Sie könne dann nicht allein
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