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Rabenschwarz

Rabenschwarz

Titel: Rabenschwarz
Autoren: Ralf Kramp
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studieren. Aber so oft er auch die einzelnen Spalten durchforstete: Der letzte Bus in die Kurstadt war längst abgefahren. Kley seufzte und ergriff resignierend seine beiden Koffer. Er musste ein Taxi nehmen. Das hätte er von Münstereifel aus ohnehin tun müssen, um nach Buchscheid zu kommen. Er tröstete sich damit, dass das am Ende sowieso die bequemere Lösung war.
    Er wollte sich gerade auf den Weg zu dem Taxistand am anderen Ende des Bahnhofsgebäudes machen, als ihn aus dem Zwielicht heraus jemand ansprach.
    »Ist das nicht Kley? Richard Kley?«
    Er fuhr herum und entdeckte eine kleine Gestalt am anderen Ende der Bushalteinsel. Der Mann kam ihm bekannt vor. Ein junger Kerl, Mitte dreißig, blond, unscheinbar ... Kley erinnerte sich zögernd. »Herbie?«, fragte er zaghaft. Es war die Abiturklasse. Es war das Gymnasium in Bad Münstereifel gewesen. »Du bist Herbert Feldmann!«
    Der junge Mann eilte auf ihn zu, und Richard Kley bemerkte den raschen Blick, den Herbie Feldmann nach hinten warf. Nur für den Bruchteil einer Sekunde huschte der Blick zur Seite, aber Kley erinnerte sich sofort an alles: an Herbies Nervenzusammenbruch nach der Schulzeit, an die Nachricht, dass er in psychiatrischer Behandlung war, an Julius, einen großen, fetten, bärtigen Mann, den Herbie von da an stets neben sich wähnte. Dieser kurze Seitenblick sagte ihm alles: Es war Herbie Feldmann, der harmlose, kleine Kerl, den sie immer alle gemocht hatten und den später dieses furchtbare Schicksal ereilt hatte. Er war Vollwaise, hatte beide Eltern bei einem Autounfall verloren und war in den Genuss eines immensen Vermögens gelangt, von dem er allerdings nie viel zu sehen bekam, weil seine Tante wie ein Zerberus treuhänderisch darüber wachte, seit Herbie vorübergehend in der Psychiatrie gelandet war. Als Kley die Eifel verlassen hatte, lebte Feldmann in Euskirchen, teilte eine kleine Wohnung mit dem bärtigen Hünen namens Julius, den niemand jemals sah oder hörte, außer Herbie selbst. Ein Hirngespinst, gegen dessen Existenz die Bemühungen sämtlicher herbeizitierter Psychiater machtlos waren.
    Sie schüttelten einander herzlich die Hand.
    »Du bist zurückgekommen?« Herbie lächelte ihn an. Ehrlich erfreut, wie es schien. Sie hatten nach der Schule keine wirkliche Freundschaft aufrechterhalten, aber trotzdem vermittelte Herbie immer, wenn sie sich getroffen hatten, das Gefühl echter Wiedersehensfreude. »Du warst lange weg!«
    »Zwei Jahre. Fast. Nächsten Monat wären es genau zwei Jahre. Und ehrlich gesagt ... nach der Zugfahrt ... nach dem, was man da so aus dem Fenster betrachten kann, da hätte ich mir fast gewünscht, ich wäre in Australien geblieben.« Herbie lachte pflichtschuldig. Er hatte nie verstehen können, warum es überhaupt irgendjemanden für einen solch langen Zeitraum in die Ferne ziehen konnte. Richard Kley hatte seine eigenen Gründe gehabt. Geheime Gründe, die aber doch jedermann kannte. Beim letzten Klassentreffen, vor einem knappen Jahr, war diese Geschichte ausführlich debattiert worden. Es war eine Flucht gewesen. Jetzt war er zurückgekehrt.
    Erneut bahnte sich ein Golf GTI mit großem Getöse und dröhnender Musik, die nur aus Bässen zu bestehen schien, den Weg durch den späten Abend.
    »Ich weiß gar nicht, wie ich jetzt von hier nach Hause kommen soll. Der letzte Bus nach Münstereifel ist weg, und ich fürchte fast, ich werde mir ein Taxi nehmen müssen.« Richard fuhr ratlos mit dem Finger auf dem Fahrplan hin und her.
    »Da wird dir nichts anderes übrig bleiben. Wir können uns eins teilen, wenn du willst. Ich muss auch unbedingt nach Münstereifel. Tante Hetti ... Ich weiß nicht, ob ich dir schon mal von meiner Tante erzählt habe. Sie macht es immer sehr dringend. Ich habe genau noch eine halbe Stunde, um bei ihr auf der Matte zu stehen, bevor sie mir die Polizei oder die Feldjäger auf den Hals hetzt.«
    »Ist   er   auch immer noch dabei?« Richard Kley deutete mit dem Finger in die Dunkelheit hinter Herbie. Dieser wurde ein wenig unsicher.
    »Julius? Na ja, klar! Julius ist immer noch da. Weicht mir nicht von der Seite. Scheint einen richtigen Narren an mir gefressen zu haben.« Herbie kicherte verlegen.
    Nicht ganz der richtige Ausdruck, mein Teuerster. Was mich an dich bindet, habe ich in all den Jahren nie so recht herausgefunden. Nenne es Mitleid, nenne es Schadenfreude, aber nenne es nie Sympathie, wenn jemand zuhört!   Mit geziertem Schritt balancierte Julius seinen
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