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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene
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Bibliothek zum Einstöpseln, ihr persönliches Nachtlicht. Das dauerte nicht lange. Rastlos stellte sie alles im Hausflur ab und ging durch die Hintertür hinaus, um sich den Sonnenuntergang anzusehen.
    Das Schöne am Haus ihres Vaters war der Blick, den man vom Garten aus hatte. Es war keine spektakuläre Aussicht, keine Berge oder Täler oder ähnlich Dramatisches, aber man konnte sehr weit über unerschlossenes Weideland sehen, das sanft zur Straße nach Constance hin abfiel. Der Himmel wirkte unermesslich von hier aus, ohne jede Begrenzung, abgesehen von dem Zaun, der Blind Lake einfasste. Vögel nisteten in dem hohen Gras jenseits des säuberlich kurz gehaltenen Rasens und manchmal stiegen sie in Scharen in den riesigen leeren Himmel auf. Tess wusste nicht, was für Vögel das waren – sie konnte sie nicht benennen. Es waren sehr viele, klein und braun, und wenn sie die Flügel ausbreiteten, flogen sie wie Dartpfeile.
    Die einzigen von Menschen gemachten Dinge, die Tess vom Garten ihres Vaters aus sehen konnte (wenn sie der mechanischen Reihe der angrenzenden Häuser den Rücken zuwandte), waren der Zaun, die Straße, die durch sanfte Hügellandschaft nach Constance führte, und das Wachhäuschen am Tor. Sie beobachtete einen Bus, der von Blind Lake wegfuhr, einer der Busse, der die Pendler in ihre weit entfernten Häuser brachte. In der einsetzenden Dämmerung verströmten seine Fenster warmes gelbes Licht.
    Tess stand still da und schaute. Wenn ihr Vater dagewesen wäre, hätte er sie inzwischen hereingerufen. Tess wusste, dass sie manchmal zu lange auf Dinge starrte. Auf Wolken oder Hügel oder, wenn sie in der Schule war, durch das makellos saubere Fenster aufs Fußballfeld, wo die weißen Torpfosten mit ihren Schatten den Verlauf der Stunden markierten. Bis jemand sie in die reale Welt zurückrief. Aufwachen, Tessa! Pass auf! Als hätte sie geschlafen. Als hätte sie nicht aufgepasst.
    In solchen Momenten, wenn der Wind das Gras bewegte und sich um sie wickelte wie eine riesige kühle Hand, empfand Tessa die Welt wie eine zusätzliche Anwesenheit, eine zweite Person, als hätten der Wind und das Gras eigene Stimmen, deren Worten sie lauschen konnte.
    Der Bus mit den gelben Fenstern hielt beim fernen Wachhäuschen. Ein zweiter Bus kam hinter ihm herangefahren. Tess wartete, dass der Wachmann die Busse durchwinken würde. Fast tausend Leute arbeiteten tagsüber in Blind Lake – Büro- und Servicemitarbeiter sowie die Betreiber der Geschäfte – und die Busse wurden immer durchgewinkt.
    Heute Abend jedoch hielten die Busse vor dem Tor und blieben stehen.
    Tess, sagte der Wind. Woraufhin Tess an Mirror Girl denken musste und all den Ärger, den es in Crossbank um sie gegeben hatte …
    »Tess!«
    Sie zuckte unwillkürlich zusammen. Die Stimme kam aus der Wirklichkeit. Es war ihre Mutter.
    »Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe …«
    »Schon gut.« Tess drehte sich um und freute sich über den beruhigenden Anblick ihrer Mutter, die über den breiten, ordentlichen Rasen auf sie zukam.
    Tessas Mutter war eine hochgewachsene Frau mit langen braunen Haaren, die um ihr Gesicht flatterten, und einem knöchellangen Kleid, mit dem der Wind neckisch spielte. Die untergehende Sonne tauchte alles in Rot: den Himmel, die in Reih und Glied stehenden Häuser, das Gesicht ihrer Mutter.
    »Hast du deine Sachen?«
    »An der Vordertür.«
    Tessa sah, dass ihre Mutter einen Blick zur fernen Straße warf. Ein weiterer Bus hatte hinter den ersten beiden angehalten, und jetzt standen sie alle drei vor dem Tor und rührten sich nicht.
    Tessa sagte: »Stimmt irgendwas nicht mit dem Zaun?«
    »Ich weiß nicht. Es ist bestimmt nichts weiter.« Doch sie runzelte die Stirn und verharrte beobachtend noch für einen Moment. Dann nahm sie Tessa bei der Hand. »Dann wollen wir mal nach Hause fahren, okay?«
    Tessa nickte, plötzlich begierig nach der Wärme des Hauses ihrer Mutter, nach dem Geruch frisch gewaschener Wäsche und des Essens aus dem Imbiss, nach der tröstlichen Behaglichkeit kleiner geschlossener Räume.

 
Drei
     
     
    Der Campus des National Laboratory von Blind Lake, seine Wissenschafts- und Verwaltungstrakte, die Vorrats- und Verkaufsstellen, waren auf dem sanften, kaum wahrnehmbaren Hang einer alten Gletschermoräne errichtet worden. Aus der Luft ähnelte das Ganze einer normalen neuen vorstädtischen Ansiedlung, ungewöhnlich nur in seiner räumlichen Abgeschiedenheit, verbunden mit der Umwelt lediglich durch
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