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Quarantaene

Quarantaene

Titel: Quarantaene
Autoren: authors_sort
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standen, kam sie jetzt vorbei: Bäume, die so neu waren, dass sie in der Erde befestigt werden mussten, um Wurzeln zu schlagen.
    Sie erreichte das kleine Haus ihres Vaters und sah, dass sein Auto nicht in der Auffahrt stand. Er war noch nicht zu Hause. Das war ungewöhnlich, kam aber hin und wieder vor. Tess schloss mit ihrem eigenen Schlüssel die Tür auf. Das Haus war gnadenlos aufgeräumt und die Möbel rochen noch immer neu, einladend zwar, aber auch irgendwie unvertraut. Sie ging zur schmalen blitzblanken Küche, holte Orangensaft aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas voll ein. Dabei spritzte ein wenig Saft über den Rand des Glases. Tessa dachte an ihren Vater, riss ein Stück Küchenpapier ab und wischte die geflieste Arbeitsplatte wieder sauber. Das zusammengeknüllte Beweisstück warf sie in den Mülleimer unter der Spüle.
    Sie trug ihr Getränk zusammen mit einer Serviette ins Wohnzimmer, machte es sich auf dem Sofa bequem und flüsterte »Video«, um die Unterhaltungskonsole in Gang zu bringen. Aber auf sämtlichen Zeichentrickkanälen war nichts als Rauschen zu sehen. Das Haus hatte einige Sendungen von gestern für sie gespeichert, aber die waren alle langweilig – King Koala, Die unglaublichen Baxters – und sie hatte darauf jetzt keine Lust. Irgendwas musste mit dem Satelliten nicht in Ordnung sein, denn es war auch sonst nichts zu empfangen … nur die intern abrufbaren Bilder der heruntergeladenen Programme, Hummerhausen bei Nacht, das Subjekt bewegungslos und wahrscheinlich schlafend unter nackter elektrischer Beleuchtung.
    Ihr Telefon summte tief im Schulranzen, der auf dem Boden zu ihren Füßen lag, und Tessa setzte sich abrupt auf. Ein Mundvoll Orangensaft geriet in den falschen Hals. Sie wühlte das Handy hervor und meldete sich heiser.
    »Tessa, bist du das?«
    Ihr Vater.
    Sie nickte, was ziemlich sinnlos war, und sagte: »Ja.«
    »Alles in Ordnung?«
    Sie versicherte ihm, dass alles bestens sei. Papa wollte immer wissen, wie es ihr ging. An manchen Tagen fragte er mehr als einmal nach. In Tess’ Ohren klang es immer wie: Was ist los mir dir? Stimmt was nicht? – und sie wusste nie eine Antwort darauf.
    »Ich muss heute länger arbeiten«, sagte er. »Ich kann dich nicht zu Mama bringen. Du musst sie anrufen und dich von ihr abholen lassen.«
    Heute war der Tag, an dem sie abends ins Haus ihrer Mutter überwechselte. Tess hatte in jedem der beiden Häuser ein Zimmer. Ein kleines ordentliches bei Papa, ein größeres chaotisches bei Mama. Sie würde ihre Schulsachen zusammenpacken müssen für den Umzug. »Kannst du sie nicht anrufen?«
    »Es ist besser, wenn du das machst, Schätzchen.«
    Sie nickte wieder. »Ist gut.«
    »Liebe dich.«
    »Dich auch.«
    »Halt die Ohren steif.«
    »Was?«
    »Ich werde dich jeden Tag anrufen, Tess.«
    »Okay.«
    »Vergiss nicht, deine Mutter anzurufen.«
    »Nein, mach ich.«
    Pflichtschuldig und ohne vom leeren Bildschirm abgelenkt zu werden, verabschiedete sie sich, dann flüsterte sie »Mama« ins Telefon. Es folgte ein Zwischenspiel von Insektengeräuschen, dann meldete sich ihre Mutter.
    »Papa sagt, dass du mich abholen musst.«
    »Ach, sagt er das? Tja – wo bist du, bei ihm?«
    Tess mochte den Klang der Stimme ihrer Mutter selbst am Telefon. Wenn man die Stimme ihres Vaters mit einem fernen Gewitter vergleichen konnte, dann die ihrer Mutter mit einem Sommerregen – beruhigend, sogar wenn sie traurig war.
    »Er muss länger arbeiten.«
    »Die Vereinbarung besagt, dass er dich bringen soll. Ich habe schließlich auch zu tun.«
    »Ich kann ja zu Fuß gehen«, sagte Tessa, machte aber kein Hehl aus ihrer Enttäuschung. Sie würde mehr als eine halbe Stunde brauchen, zu Fuß zum Haus ihrer Mutter zu gehen, vorbei an dem Coffeeshop und den Jugendlichen, die sich dort immer trafen und die ihr neuerdings gern »Spasti« hinterherriefen, wegen der Art, wie sie den Kopf herumriss, um ihren Blicken auszuweichen.
    »Nein«, sagte ihre Mutter. »Es wird schon spät … Sich nur zu, dass du deine Sachen alle beisammen hast. Ich werde in … na, etwa zwanzig Minuten da sein. Okay?«
    »Okay.«
    »Vielleicht nehmen wir uns unterwegs irgendwo etwas zu essen mit.«
    »Super.«
    Nachdem sie das Telefon wieder in ihren Schulranzen zurückgesteckt hatte, vergewisserte Tess sich, dass sie alle Sachen beisammen hatte, die sie mit zu Mama nehmen musste: ihre Hefte und Textbücher natürlich, aber auch ihre Lieblingsblusen und -hemden, ihren Plüschaffen, ihre
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