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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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Sternen sah aus wie eine gestanzte Blechlaterne. So viele Menschenseelen waren unterwegs zur Bühne, dass man kaum vorankam, wobei mir auffiel, dass die Menge dazu tendierte, Ritter Platz zu machen. Er lief leicht zurückgelehnt und sah über die Köpfe der Leute hinweg, als rechne er damit, einen Freund zu entdecken. Ich fragte ihn nach seiner Gemeinde in West Virginia. Er sagte, er und die anderen seien Pfingstkirchler, Zungenrede und so weiter, nur Jake sei Baptist. Sie gingen aber alle zum selben »Singen« – einem wöchentlichen Bibelkreis, der immer bei einem von ihnen zu Hause stattfand, mit Essen und Gitarren. Ob Ritter glaubte, dass jeder hier Christ sei?
    »Nein, es gibt sicher welche, die noch nicht errettet sind. Geht nicht anders, bei so vielen Leuten.« Was er davon halte?
    »Umso mehr kann evangelisiert werden«, sagte er.
    Bub blieb abrupt stehen – ein Zeichen, dass auch er etwas sagen wollte. Während er seine Worte wählte, strömte die Menge weiter an uns vorbei. »Es sind auch jüdische Menschen da«, sagte er dann.
    »Echt?«, sagte ich. »Du meinst, richtige Juden?«
    »Ja«, sagte Bub. »Diese Mädchen, die Pee Wee angeschleppt hat. Die sind jüdisch. Ich finde das toll.« Er lachte, ohne dass sein Gesicht sich bewegte; Bubs Lachen war ein rein stimmliches Phänomen. Waren seine Augen feucht?
    Wir liefen weiter.
    Ich vermute, auf eine gewisse Weise – nennen wir's mal: bewusst – wollte ich nicht wahrhaben, was ich nicht umhin kam wahrzunehmen. Aber ich bin im Laufe der letzten Jahre auf so vielen großen öffentlichen Veranstaltungen gewesen, um über Sportereignisse oder sonst was zu berichten, und überall fiel diese merkwürdige implizite Feindseligkeit auf, die vor allem männliche Amerikaner wie eine zweite Haut mit sich herumtragen. Halten Sie es meinetwegen für eine absurde Ver
allgemeinerung, aber wenn Sie ausreichend viele Spätnachmittage im Gedränge von Stadien verbringen, dann spüren sie es. Es ist kein Machismo, sondern etwas Dunkleres, etwas leicht Reizbares, leicht Hämisches, eine ständige Bereitschaft, Böses geschehen zu lassen. Hier gab es das nicht. Es war schlichtweg nicht da. Ich suchte und konnte es nirgendwo finden. Während der drei Tage, die ich auf dem Creation Festival verbrachte, habe ich nicht eine Schlägerei erlebt, kein einziges im Zorn gesprochenes Wort gehört, mich nicht ein einziges Mal provoziert gefühlt, noch nicht einmal leicht, und ich habe jede Menge Menschen kennengelernt, die außergewöhnlich freundlich waren. Ja, sie hatten alle dieselbe Hautfarbe, glaubten alle an dasselbe und tranken keinen Alkohol, aber es waren immerhin hunderttausend.
    Wir kamen an einer Reihe Plastik-Klos und den Essensständen vorbei. Als wir um die Ecke bogen, sah ich die Bühne von der Seite. Und die Menschenmenge auf dem der Bühne gegenüberliegenden Hügel. Die Masse der Körper zog sich den Hügel hinauf, bis sie irgendwo mit der Dunkelheit verschmolz. »Heilige Scheiße«, entfuhr es mir.
    Wie ein Impresario schwenkte Ritter den Arm. »Das, mein Freund«, sagte er, »ist Creation.«
     
    Als Zugabe spielten Jars of Clay eine Coverversion von U2s »All I Want Is You«. Sie war blueslastig.
    Mehr werde ich zu den Bands nicht sagen.
    Oder nein, Moment, das noch: Die Tatsache, dass ich von den ungefähr vierzig Bands, die ich beim Creation Festival mit ganzem oder halbem Ohr mitbekommen habe, nicht einen einzigen Takt interessante Musik gehört habe, sollte nicht als Hieb gegen die Bands gelesen werden – und noch viel weniger als grundsätzliche Verachtung von Christen, die Rockmusik machen. Die Bands hier waren aber keine christlichen Bands, sondern Christenrock-Bands. Der Schlüssel zum Verständnis
der gesamten Szene liegt in diesem feinen Unterschied. Christenrock als ein Genre ist dazu da, evangelikale Christen moralisch zu erbauen und damit Geld zu verdienen. Christenrock ist Message-Musik für Hörer, die die Message im Schlaf beherrschen, und stellt sich darüber hinaus der gefühlten – und von den Künstlern sehr ernst genommenen – Verantwortung, »Menschen zu erreichen«. Aus diesem Grund bedient diese Musik die Kategorien »Eindeutigkeit« und »maximale Eingängigkeit« (die Künstler selbst würden von »Klarheit« sprechen), was wiederum bedeutet: Schmarotzertum. Erinnern Sie sich an diese Parfümzerstäuber, die es früher in Drogerien gab? Wenn sie Drakkar Noir mögen, wird Ihnen auch Sexy Musk gefallen ? Genauso funktioniert
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