Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead
Autoren: John Jeremiah Sullivan
Vom Netzwerk:
Gewicht aufs Gas. Ich hörte Schreie. Ich stieg auf die Bremse. Mit der linken Hand und dem linken Fuß suchte ich wie ein Ertrinkender nach der Notbremse. (Hatte nicht Jack bei seiner Einweisung erwähnt, wo sie zu finden sei?) Wir verloren Halt; mein Gefährt begann zu zittern. In den Augen meines kleinen Führers stand die Angst geschrieben.
    Natürlich hatte ich gewusst, dass dieser Moment kommen, dass sich das Neun-Meter-Mobil gegen mich wenden würde. Das war uns beiden von Anfang an klar gewesen. Aber ich muss gestehen, ich hatte seinen Blutdurst extrem unterschätzt. Hinter und unter mir lag im Wortsinne ein Feld voller Christen: Christen, die Brötchen grillten, Gitarre spielten und kameradschaftlich beisammensaßen. Das Luftbild in den Zeitungen würde eine lange Narbe zeigen, eine Schneise mitten durch ihr friedliches Zeltdorf. Dieser Psychopathen-Gigant, der es tatsächlich fertiggebracht hatte, ein zwar unsäglich verwirrtes, aber doch unschuldiges Kind dafür zu benutzen, seine niederträchtigen Pläne in die Tat umzusetzen!
    Meine Erinnerung an die nächsten fünf Sekunden ist undeutlich, aber ich weiß noch, dass ein großer, vollkommen quadratischer Männerschädel vor der Windschutzscheibe auftauchte.
Er hatte blonde Haare und eine Brille auf der Nase, weit offene Augen und einen mittelalterlich anmutenden West-Virginia-Akzent, in dem er mir sagte, ich solle beim Bremsen »in den Anker gehen«. Irgendein Bereich meiner motorischen Hirnrinde gehorchte. Der Wagen brach kurz zur Seite aus und stand still. Dann hörte ich dieselbe Stimme: »Und jetzt bei drei aufs Gas: eins, zwei . . .«
    Wir fuhren an – ganz langsam, wie von einer Seilwinde gezogen. Irgendwelche wahnwitzig starken Wesen schoben von hinten. Kurz darauf hatten wir die Kuppe des Hügels erreicht.
    Sie waren zu fünft. Alle Anfang zwanzig. Ich blieb in meinem Wohnmobil sitzen, während sie sich unter mir versammelten. »Danke«, sagte ich.
    »Ach was«, kam es prompt von Darius, demjenigen, der die Befehle gegeben hatte. Er sprach sehr schnell. »Wir haben den ganzen Tag nichts anderes gemacht, keine Ahnung, warum der Junge ständig Leute hier hochbringt, wir kommen aus West Virginia, der hat sie nicht mehr alle, da drüben ist alles frei.«
    Ich sah zurück und nach unten: da, wo er hinzeigte, war eine leere Weide.
    Jake trat vor. Auch er war blond, aber schlanker. Auf eine verwilderte Art gut aussehend. Helle Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht. Er sagte, er sei aus West Virginia, und wollte wissen, wo ich herkam.
    »Ich bin in Louisville geboren«, sagte ich.
    »Echt?«, fragte Jake. »Liegt das nicht am Ohio River?« Wie Darius reagierte und redete auch er sehr schnell. Ich bejahte.
    »Ich hab mal einen Typen gekannt, der kam aus Ohio. Der ist gestorben. Die Sache ist, ich bin bei der freiwilligen Feuerwehr, und er hat sich mit seinem Chevy Blazer neunmal überschlagen. Den hat's derart zerlegt, die Überreste waren von hier bis da vorne zum Abhang verteilt. Der war so tot wie Kolumbus.«
    »Wer seid ihr denn?«, fragte ich.
    Ritter antwortete. Er war massig, einer dieser fetten Männer, die eigentlich gar kein Fett am Leib haben, Gefängniswärter, wie ich bald erfahren sollte, und ehemaliger Schwergewichtsringer. Er konnte eine Ananas in seiner Armbeuge zerquetschen und sich darüber totlachen (zumindest stelle ich mir das so vor). Frisur: militärisch. Schnauzbart: angedeutet. »Nur ein paar Jungs aus West Virginia, die für Christus brennen«, sagte er. »Ich bin Ritter, das hier sind Darius, Jake, Bub und Jakes Bruder Josh. Pee Wee springt hier auch irgendwo rum.«
    »Hinter irgendeinem Rock her«, sagte Darius abfällig.
    »Ihr hängt hier also ein bisschen rum und rettet nebenher Leben?«
    »Wir kommen aus West Virginia«, sagte Darius ein zweites Mal, als hielte er mich vielleicht für schwer von Begriff. Er war es, der am häufigsten für die Gruppe sprach. Sein Kinn sprang vor, was ihn aggressiv wirken ließ, aber es lag nur an dem Batzen Kautabak, den er in der Backe trug; bestimmt war er bloß etwas nervös.
    »Also, unser Zeltplatz ist direkt da drüben«, sagte Jake. Mit dem Kopf zeigte er zu einem Auto, einem Laster, einem Zelt, einem Feuer und einem großen, aus Holzscheiten zusammengezimmerten Kreuz. Und da war noch was . . . ein Verstärker?
    »Die Stelle hatten wir letztes Jahr auch«, erzählte Darius. »Ich habe dafür gebetet. Ich habe gesagt: Herrgott, ich hätte diesen Platz wirklich gerne wieder,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher