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Pulphead

Pulphead

Titel: Pulphead
Autoren: John Jeremiah Sullivan
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erlaubte dem Mobil zu gleiten. Aufgeregte Christen, die meisten jünger als achtzehn, säumten meinen Weg. Die Erwachsenen sahen aus wie Eltern oder Pfarrer, also Begleiter. Schnell breitete sich die Dämmerung aus, und die unbewegte Luft im Tal war erfüllt vom beißenden Rauch der Lagerfeuer. Zu meiner Linken ertönte lautes Brüllen – irgendetwas war auf der Bühne passiert. Das Geräusch kündete von einer riesenhaften Menschenmenge. Es erfüllte das Tal und hallte nach.
    Ich hatte gehofft, dass ich unbemerkt Einzug halten könnte, dass mir das Wohnmobil vielleicht sogar eine Art Deckung gewähren würde, aber schon jetzt zog ich alle Blicke auf mich. Im Vorbeifahren hörte ich zwei Jugendliche unabhängig voneinander sagen: »Der tut mir leid.« Ein Dritter sprang auf den Beifahrertritt, rief »Himmelherrgott, Mann«, ließ sich wieder nach hinten kippen und rannte weg. Ich bremste unausgesetzt – sogar im Leerlauf war ich zu schnell. Welches Spektakel auch immer das laute Tosen vor der Bühne hervorgerufen hatte, es war offenbar vorbei: Die Wege waren verstopft, und die jungen Leute strömten rechts und links an mir vorbei, hin zu ihren Zelten, wie eine Ameisenstraße, die sich gabelt, um ein unwesentliches Hindernis zu umgehen. Sie hatten eine befremdliche Art, dem Wohnmobil immer erst dann Platz zu machen, wenn sich der vordere Kotflügel bereits an ihnen rieb. Von meinem erhöhten Aussichtspunkt aus hatte es den Anschein, als müsste ich sie mit sanfter Gewalt in Zeitlupe voneinander trennen, wobei sie immer eine Zehntelsekunde zu lang warteten, bevor sie auseinandergingen.
    Was die feinen Unterschiede zwischen den verschiedenen evangelikalen Gruppierungen anging, so hatte sich seit meiner
Highschool-Zeit offenbar nicht so viel getan, obwohl mir auffiel, dass mittlerweile alle etwas besser aussahen. Viele waren wie Skatepunks gekleidet oder im East-Village-Style der vorigen Saison (nicht konfessionsgebundene Freikirchler), andere sahen eher nach Trailerpark (Provinz-Baptisten, Church of God) oder wie Preppies aus (Young Life, Fellowship of Christian Athletes – bei denen könnte man vielleicht Gras schnorren). Die strengeren Sektierer waren sofort an ihrer unverändert antimodischen Kleidung und ihren blassen, traurigen Gesichtern zu erkennen. Als ich später eine Frau fragte, wie viele der Festivalbesucher ihrer Schätzung nach Weiße seien, antwortete sie: »Ungefähr einhundert Prozent.« Ich sah aber auch ein paar Asiaten und drei oder vier Schwarze. Sie wirkten auf mich wie Adoptivkinder.
    Ich fuhr und fuhr. Nie im Leben hätte ich damit gerechnet, dass dieses Festival so groß sein könnte. Mit jeder Straßenkehre öffneten sich weitere Talnischen voller Zelte und Autos; die Lagerstadt hatte sich bis an den Fuß des Bergrückens ausgedehnt und hier ihre physiografische Grenze erreicht. Es fällt mir schwer, den sinnlichen Eindruck so vieler Menschen zu vermitteln, die unter freiem Himmel leben und sich bewegen: eine Mischung aus Familienzusammenführung und Flüchtlingscamp, mit einem Schuss Militär, aber fröhlich.
    Die Wege wurden schlammiger und nicht unbedingt breiter: der Hallelujah Highway, die Straße der Rechtschaffenheit. Man hatte mir gesagt, ich solle bis »H« fahren, aber als ich »H« erreichte, traten zwei Jugendliche mit orangefarbenen Westen auf mich zu und sagten, hier seien alle Plätze reserviert. »Könnt ihr mir nicht irgendwie weiterhelfen, Jungs?«, fragte ich und wies Mitleid erregend mit dem Finger auf mein Wohnmobil. Sie zogen Walkie-Talkies hervor. Zeit verstrich. Es wurde dunkler. Dann kam ein noch Jüngerer auf einem Fahrrad angefahren, ließ eine Taschenlampe aufleuchten und bedeutete mir, ihm zu folgen.
    Es war eine solche Erleichterung, mich ganz dem Willen dieses Jungen zu überlassen. Das Einzige, was ich noch zu tun hatte, war, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Im Scheinwerferlicht strahlte seine Weste eine warme, beruhigende Beamtenhaftigkeit aus. Weswegen ich wahrscheinlich nicht rechtzeitig merkte, dass er mich eine fast senkrechte Steigung hinaufführte – den »Hügel oberhalb von D«.
    Rückblickend weiß ich nicht mehr, was zuerst bei mir ankam: das alarmierende Kribbeln im Rückgrat, das einsetzte, weil das Wohnmobil einen Neigungsgrad erreicht hatte, für dessen Bewältigung es nicht gemacht war, oder die Übelkeit erregende Sicherheit, dass wir angefangen hatten, rückwärts zu rutschen. Ich richtete mich im Sitz auf und trat mit meinem ganzen
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