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PR 2620 – Fremde in der Harmonie

PR 2620 – Fremde in der Harmonie

Titel: PR 2620 – Fremde in der Harmonie
Autoren: Christian Montillon
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im Schatten des hohen Lehrturms, auf dessen Krone die Kristalle in der Sonne blitzten. Als ich sie anschaute, fiel das Licht so unglücklich seitlich in mein Auge, dass es mich zum Niesen reizte. Mein Kehlsack blähte sich unkontrolliert, und die Warzenhaut im Gesicht spannte.
    Mein Blick glitt weiter, und ich blendete all die allzu offensichtlichen Details meiner Umgebung aus, die mich ablenken wollten: Zeichnungen auf Boden und Wänden, Satzfetzen, bedeutungslose Empfindungen wie ein Windstoß, das Stolpern eines Lehrers, das automatische Zurechtrücken der Maske ...
    Nur das eigentliche Ziel zählte.
    Und dann sah ich ihn.
    Im Schatten des kleinsten Gebäudes, das die Speiseräume beherbergte, stand ein Junge. Kein Kandran wie ich, sondern ein Humanoide, schätzungsweise zwischen zwölf und vierzehn Jahren alt.
    Er lehnte mit dem Rücken an einer der geschlungenen Säulen, die sich in vier Metern Höhe wolkenartig verbreiterten und die Ursprünge der Harmonie symbolisierten. Seine Hosen endeten eine Handbreit über den Knöcheln, die Haut war bleich.
    Seine Maske umschloss den ganzen Kopf und erweckte die Illusion, keine Augenschlitze zu haben – eine dumme Modeerscheinung, die sich in gewissen Kreisen breitmachte und der ich überhaupt nichts abgewinnen konnte. Es galt wohl als avantgardistisch und als neue Welle der Harmonie.
    Ich erkannte es als das, was es war: Unfug!
    Ging die Störung von ihm aus? War er der Jyresca?
    Er stand nicht entspannt da, wie er geradezu verzweifelt den Eindruck erwecken wollte, sondern vielmehr bemüht gelassen. Seine Finger nestelten kaum merklich an einer Art Münze, nein, einem viereckigen Metallplättchen, groß wie sein Daumennagel. Es wanderte zwischen den Knöcheln umher ... drehte sich ... und wieder zurück.
    Vielleicht ein Datenträger oder – ein Sprengkörper?
    Da ich wusste, wo die Augenschlitze bei einer solchen Maske wirklich lagen – nämlich durch ein raffiniertes Spiegelungssystem leicht zur Seite versetzt bis zu den Schläfen –, konnte ich sehen, wie der Junge mithilfe von knappen Kopfbewegungen seinen Blick immer wieder über den Platz schweifen ließ.
    Kein Zweifel, er suchte jemanden.
    Mich? Oder genauer gesagt den Jäger, dessen Gegenwart er sicherlich spürte, aber dessen Identität er ebenso wenig kannte wie ich die meines Feindes?
    Ich schnupperte.
    Ja, es kam aus seiner Richtung.
    Dort fehlte etwas. Die Harmonie. Ich vermochte es noch nicht zu beweisen, aber ich fühlte, dass ich mein Zielobjekt gefunden hatte.
    Dieser untrügliche Jagdinstinkt war stets einer meiner wertvollsten Ratgeber. Mehr als einmal war ich in der Vergangenheit deswegen den nüchternen Fakten meiner Kollegen voraus gewesen. Sie verließen sich nur auf Logik, Analysen und Beweise.
    Er war es! Genau dieser humanoide Junge. Ich könnte mit einem sauberen Schuss ...
    Aber nein. Nicht mitten in der Menschenmenge. Es gäbe eine zu große Unruhe, möglicherweise sogar eine mittelschwere Panik.
    Ganz zu schweigen von den Erklärungen, die hinterher notwendig wurden. Ich stand nicht gern im Mittelpunkt.
    Also musterte ich ihn noch einmal, nahm sehr rasch jedes Detail seiner Erscheinung in mich auf. Sein Alter korrigierte ich auf vierzehn, vielleicht fünfzehn Jahre. Die Maske sah teuer aus, die Kleidung ebenfalls.
    Er besaß umfassende finanzielle Mittel, aber er gaukelte womöglich etwas vor, was er gar nicht war. Viele kleine Unstimmigkeiten sprachen dafür. Er war nicht sorgfältig genug vorgegangen, um mich täuschen zu können.
    Diese Unlogik und Fehlerhaftigkeit in den Details seines Erscheinungsbildes lieferte den letzten Beweis. Eigentlich wäre es gar nicht nötig gewesen, aber es schadete auch nichts.
    Nun durfte ich meinen Vorteil nicht verschenken. Ich kannte ihn ... er aber noch nicht mich. Wenn ich mich zu auffällig verhielt, spielte ich ihm nur in die Hände. Identifizierte er mich, herrschte wieder Chancengleichheit.
    Im Unterschied zu ihm hatte ich auf meine Tarnung größten Wert gelegt. Alles, was mich als Harmoniewächter auszeichnete, trug ich nicht bei mir. Nicht die offizielle Uniform und das Abzeichen, nicht die typischen Waffen.
    Mein Äußeres als Uyari Lydspor hatte ich ein wenig verändert; das krötenartige Gesicht unter der Maske war fülliger, was die gesamte Kopfform änderte und den Eindruck eines zu Fettsucht neigenden Kandran erweckte.
    Ich wandte mich ab. Mein Widersacher konnte ab sofort die Kleidung, sogar die Maske wechseln – ich würde ihn
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