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Port Vila Blues

Port Vila Blues

Titel: Port Vila Blues
Autoren: Gary Disher
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sich in die Schusslinie? Versuchten sie, den Helden zu spielen? Wyatt hasste es, wenn jemand verletzt oder getötet wurde — nicht weil es ihm nahe ging, sondern weil es die Leute aufregte, insbesondere die bei der Polizei.
    Überzeugt davon, dass das Haus leer war, ging Wyatt hinüber zu Nummer 29, jeder seiner Schritte begleitet von einem energischen Knacken seiner Lederschuhe. In seinem dunklen, zweireihigen Mantel, mit Hemd und Krawatte, eine schwarze Aktentasche schwingend, hätte er der erste Geschäftsmann sein können, der an diesem Morgen auf den Beinen war. Bald schon würden Autos rückwärts aus Auffahrten herausfahren, Auspuffgase in der Luft hängen, aber momentan war Wyatt die einzige Gestalt draußen auf den langen Straßen der Wohlhabenden von Double Bay.
    Er blieb an der Auffahrt stehen. Direkt neben ihm, im Rinnstein, lag eine zusammengerollte Zeitung. Wyatt hatte sie dort unbemerkt in den frühen Morgenstunden fallen lassen, doch jetzt könnten Beobachter hinter benachbarten Fenstern sehen, wie er sich bückte, die Zeitung aufhob, dastand und unschlüssig die Auffahrt hinaufblickte, als beschäftige ihn die Frage, ob er die Zeitung mitnehmen oder wieder hinlegen solle, wo sie beschädigt oder gestohlen werden könnte. Man sähe, wie er sich entschied. Man sähe ihn die Auffahrt hochgehen, einen freundlichen Fußgänger, der mit der Zeitung gegen sein Knie klopfte.
    Die vorderen Fenster waren weder von der Straße noch von den umliegenden Häusern einsehbar. Wyatt schwang die Aktentasche und schlug das Wohnzimmerfenster ein. Sofort fing das Blaulicht über der Eingangstür an zu blinken und Wyatt wusste, dass im örtlichen Polizeirevier die Alarmglocken schrillten. Ihm blieben einige Minuten, kein Grund, etwas zu überstürzen.
    Die Zeitung war eng zusammengerollt und in Plastikfolie eingeschweißt. Sie hatte die Härte und Festigkeit eines kleinen Stocks. Wyatt ließ sie unterhalb des Fensters fallen, ging ohne Eile die Auffahrt hinunter und hinaus auf den Bürgersteig.
    Eine Straße weiter entledigte er sich des Mantels und der Krawatte; darunter kam eine marineblaue Wendejacke zum Vorschein, in deren Tasche sich eine Mütze befand. Er setzte sie auf und machte sofort den Eindruck, als gehöre er zu dem kleinen Mazda, der nahe der Ecke geparkt war. Rapido Couriers stand an den Seiten des Mazda, in dunklen Schrägbuchstaben. Den Wagen hatte er die Nacht zuvor aus einem Service-Depot gestohlen. Heutzutage war das Fahrzeug eines Kurierdienstes so selbstverständlich wie früher der Lieferwagen des Milchmannes, also rechnete Wyatt nicht mit Fragen, er rechnete auch nicht damit, dass man in Double Bay nach dem Wagen suchen werde. Er stieg ein und lehnte sich zurück, um zu warten, ein Straßenverzeichnis auf dem Lenkrad — ein alter Trick, der immer funktionierte.
    Er stellte den Empfänger auf dem Beifahrersitz gerade noch rechtzeitig auf die Frequenz des Polizeifunks ein, um mitzubekommen, wie der Ruf hinausging. Er hörte, wie der Wachhabende die Adresse langsam buchstabierte und Hinweise auf die Straße gab.
    »Hat ein Nachbar angerufen?«, wollte eine Stimme wissen.
    »Negativ. Die Alarmanlage in dem Gebäude ist mit dem Revier verbunden.«
    »Ein herabfallendes Blatt«, mutmaßte der Cop im Streifenwagen. »Tau. Ein Kurzschluss. Wollen wir wetten?«
    Eine andere Stimme mischte sich ein: »Nun fahrt schon hin, ihr beiden.«
    Es schien, als habe der Cop im Streifenwagen Haltung angenommen, denn Wyatt hörte den Mann sagen: »Sofort, Sarge«, und kurz darauf sah er im Rückspiegel den Streifenwagen mit aufblitzendem Blaulicht die Carlyle Street entlangfahren.
    Der Zahnschmerz schlich sich nicht in Wyatts Bewusstsein, sondern fiel mit schneidender Brutalität über ihn her. Nerven zuckten und Wyatt spürte, wie sein linkes Augenlid flatterte. Den Kopf zu bewegen war unerträglich. Es war die bisher schwerste Attacke, die ihn ohne Vorwarnung traf, zu einem Zeitpunkt, wo der Job seine volle Aufmerksamkeit verlangte. Er tippte gegen die Zähne im linken Oberkiefer und suchte nach dem Übeltäter, als könne ihm sein Aufspüren Erleichterung verschaffen. Tatsächlich, da war er.
    Er drückte zwei Paracetamol aus dem Folienstreifen und spülte sie mit einer Flasche Apfelsaft hinunter. Dann nahm er ein Fläschchen Nelkenöl aus der Tasche, gab einen Tropfen auf seinen Finger und rieb ihn in seinen Gaumen und vorsichtig über den Zahn. Er hatte das jetzt fünf Tage lang getan. Er wusste nicht, ob die
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