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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula
Autoren: Mikael Niemi
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unfassbar war, dass ich meinen fünfjährigen Fuß drunterschieben wollte. Stattdessen warf ich große Steine vor die Walze, lief hin und suchte sie, nachdem das Fahrzeug vorbeigefahren war, aber die Steine waren verschwunden. Sie waren auf geradezu magische Weise fort. Das war gleichzeitig gruselig und faszinierend. Ich legte meine Hand auf die plattgewalzte Oberfläche. Sie fühlte sich sonderbar kalt an. Wie konnte so rauer Kies glatt wie ein Laken gebügelt werden? Ich warf eine Gabel aus der
    Küchenlade hin und dann meine Plastikschaufel, und auch die verschwanden spurlos. Und noch heute bin ich mir nicht sicher, ob diese Dinge wirklich dort in dem Straßenbett liegen oder ob sie sich nicht tatsächlich auf irgendeine magische Art aufgelöst haben.
    Zu dieser Zeit kaufte meine große Schwester ihren ersten Plattenspieler. Wenn sie noch in der Schule war, schlich ich mich in ihr Zimmer. Er stand auf ihrem Schreibtisch, ein technisches Wunderwerk aus schwarzem Plastik, ein glänzender kleiner Kasten mit einem durchsichtigen Deckel, der merkwürdige Knöpfe und Regler verbarg. Rund herum lagen Lockenwickler, Lippenstift und Spraydosen. Alles war modern, ein unnötiger Luxus, alles ein Zeichen unseres Reichtums und ein Versprechen auf eine Zukunft in Überfluss und Wohlstand. In einem Lackkästchen lagen Stapel mit Kinokarten und Fotos von Filmsternchen. Meine Schwester sammelte die Eintrittskarten und hatte einen großen Stapel von Wilhelmssons Kino. Auf die Rückseite schrieb sie den Filmtitel, die Hauptdarsteller und eine Note.
    Auf ein Plastikgestell, das aussah wie ein Abtropfgestell für Geschirr, hatte sie ihre einzige Single gestellt. Ich hatte ihr hoch und heilig versprochen, nicht einmal drauf zu hauchen. Jetzt ergriff ich sie mit zitternden Fingern, strich über die glänzende Hülle, auf der ein fescher Jüngling Gitarre spielte. Eine schwarze Haarlocke hing ihm in die Stirn, er lächelte und erwiderte meinen Blick. Vorsichtig, ganz vorsichtig holte ich das schwarze Vinyl heraus. Sorgsam hob ich den Deckel des Plattenspielers. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie meine Schwester es getan hatte, und legte die Scheibe auf den Plattenteller. Schob das große Singleloch auf den Mittelstutzen. Und mit einer Erwartung, die mir den Schweiß ausbrechen ließ, schaltete ich den Strom ein.
    Der Plattenteller zuckte und begann sich zu drehen. Es war unerträglich spannend, ich musste den Impuls unterdrücken, einfach davonzulaufen. Mit plumpen Jungsfingern packte ich den Wurm, den schwarzen, steifen Tonabnehmer mit seinem Giftzahn, grob wie ein Zahnstocher. Dann senkte ich ihn auf das surrende Plastik hinab.
    Es knisterte wie Speck in der heißen Pfanne. Und ich wusste, dass etwas kaputtgehen würde. Ich hatte die Scheibe kaputtgemacht, man würde sie nie wieder spielen können.
    »BAM-BAM ... BAM-BAM .«
    Nein, da kam es! Kräftige Akkorde. Und dann Elvis’ fiebrige Stimme.
    Ich blieb wie versteinert stehen. Vergaß zu schlucken, merkte nicht, dass es von der Unterlippe tropfte. Ich fühlte mich butterweich, alles drehte sich mir im Kopf, ich vergaß sogar zu atmen.
    Das war die Zukunft. So klang sie. Musik, die dem Stampfen der Straßenbaufahrzeuge ähnelte, ein Gerassel, das kein Ende nahm, ein Lärm, der auf den purpurroten Sonnenuntergang am Horizont verwies.
    Ich beugte mich vor und schaute aus dem Fenster. Draußen auf der Straße rückte ein Lastwagen vor, und ich sah, dass sie mit dem endgültigen Belag anfingen. Aber das war kein schwarzer, lederglänzender Asphalt, den sie da auskippten. Sondern Ölschotter. Staubgrauer, holpriger, hässlicher, verdammter Ölschotter.
    Auf dem sollten wir Dummköpfe in die Zukunft radeln.
    Als die Maschinen sich endlich zurückgezogen hatten, machte ich kleine, vorsichtige Ausflüge in die Nachbarschaft. Mit jedem Schritt wuchs meine Welt. Die neubelegten Straßen führten weiter zu anderen neugeteerten Straßen, Grundstücke breiteten sich wie belaubte Parks aus, riesenhafte Hunde zerrten an ihren rasselnden Laufleinen und kläfften mich an. Und je weiter ich ging, umso mehr gab es zu sehen. Die Welt nahm kein Ende, sie weitete sich die ganze Zeit aus, und ich spürte einen Schwindel, der fast an Übelkeit grenzte, als ich verstand, dass man immer, immer weiter gehen konnte. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und fragte Papa, der gerade unseren neuen Volvo PV wusch:
    »Wie groß ist die Welt?«
    »Ziemlich groß«, sagte er.
    »Aber irgendwo muss sie
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