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Populaermusik Aus Vittula

Titel: Populaermusik Aus Vittula
Autoren: Mikael Niemi
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tibetanische Gebetsplatte werde ich niemals die Nacht überstehen können.
    Es gibt nur noch eine Möglichkeit. Ich muss mich losreißen.
    Bei dem Gedanken wird mir schlecht. Aber ich habe keine andere Wahl. Zerre zunächst ein bisschen zur Probe. Spüre den Schmerz bis in die Zungenwurzel hinein. Eins ... zwei ... und die letzte Zahl heißt ...
    Rot. Blut. Und ein Schmerz, der mich mit der Stirn gegen die Metallplatte schlagen lässt. Es geht nicht. Der Mund sitzt immer noch so bombenfest wie vorher. Ich verliere noch mein Gesicht, wenn ich härter aufschlage.
    Ein Messer. Wenn ich wenigstens ein Messer hätte. Ich taste mit dem Fuß nach dem Rucksack, aber der liegt mehrere Meter weit entfernt. Vor Angst krampft sich mein Magen zusammen, fast entleert sich schon die Blase in der Hose. Ich öffne den Reißverschluss und bereite mich darauf vor, auf allen vieren zu pissen, wie eine Kuh.
    Doch da halte ich inne. Nehme meinen Trinkbecher, der am Gürtel hängt. Pisse den Becher voll und gieße mir anschließend den Inhalt über den Mund. Es läuft mir über die Lippen, schmilzt, und nach wenigen Sekunden bin ich frei.
    Ich habe mich freigepisst.
    Ich stehe auf. Meine Gebetsstunde ist vorbei. Zunge und Lippen sind starr und schmerzen. Aber ich kann sie wieder bewegen. Endlich kann ich anfangen zu erzählen.
    KAPITEL 1
    - in dem Pajala den Schritt in die Gegenwart tut, Musik entsteht und zwei kleine Jungs sich mit leichtem Gepäck auf den Weg machen.
    Es war Anfang der Sechzigerjahre, da wurde unser Viertel in Pajala asphaltiert. Ich war fünf Jahre alt und hörte das Dröhnen, als sie sich näherten. An unserem Haus vorbei kroch eine Kolonne panzerähnlicher Fahrzeuge, die den holprigen und löchrigen Kiesweg zu durchwühlen begannen. Es war im Frühsommer. Männer in Overalls liefen breitbeinig umher, spuckten Kautabak aus, schlugen mit den Stecheisen zu und murmelten etwas auf Finnisch, während die Hausfrauen neugierig hinter den Gardinen standen. Für einen kleinen Knirps war das höchst spannend. Ich hing am Bretterzaun, guckte durch die Latten hindurch und sog den Dieselqualm dieser gepanzerten Wunderdinger in mich hinein. Sie verbissen sich in den gewundenen Dorfweg, als wäre es ein alter Kadaver. Ein Lehmweg mit unzähligen kleinen Kuhlen, die sich bei Regen sofort anfüllten, ein pockennarbiger Rücken, der bei Tauwetter wie Butter dahinschmolz und der im Sommer wie ein Hackfleischteig gesalzen wurde, damit der Staub gebunden wurde. Ein Kiesweg war altmodisch. Der gehörte in die vergangene Zeit, in der unsere Eltern geboren worden waren, die sie aber letztendlich dann doch hinter sich lassen wollten.
    Unser Viertel wurde im Volksmund Vittulajänkkä genannt, was in der Übersetzung Fotzenmoor bedeutet. Der Ursprung des Namens war unklar, kam aber sicher daher, dass hier so viele Kinder geboren wurden. In vielen der Hütten gab es fünf Kinder, manchmal auch mehr, und der Name wurde zu einer Art
    Lobgesang der weiblichen Fruchtbarkeit. Vittulajänkkä, oder Vittula, wie es abgekürzt wurde, war von den Mitgliedern ärmerer Familien bevölkert, die in den Hungerjahren in den Dreißigern aufgewachsen waren. Dank harter Arbeit und der Hochkonjunktur war man aufgestiegen und hatte Geld für ein richtiges Haus aufnehmen können. Schweden blühte, die Wirtschaft wuchs, und sogar Tornedalen wurde vom Fortschrittsrausch mitgerissen. Die Entwicklung war so überraschend schnell gekommen, dass man sich immer noch arm fühlte, obwohl man doch reich geworden war. Ab und zu kam die Befürchtung auf, alles könne einem wieder genommen werden. Die Hausfrauen dachten hin und wieder voller Schaudern hinter ihren selbst genähten Gardinen, wie gut man es doch getroffen hatte. Man hatte ein ganzes Haus für sich selbst und seine Nachkommenschaft. Man konnte es sich leisten, Kleidung zu kaufen, die Kinder mussten nicht mehr in Lumpen und Gestopftem herumlaufen. Man hatte sogar ein Auto. Und jetzt würde auch noch der Kiesweg verschwinden, jetzt würde das alles mit ölschwarzem Asphalt gekrönt werden. Die Armut würde in eine schwarze Lederjacke gekleidet. Es war die Zukunft, die hier geschaffen wurde, glatt wie eine Wange. Hier würden die Kinder auf ihren neuen Fahrrädern dem Wohlstand und der Ingenieursausbildung entgegenradeln können.
    Die Hinterlader brüllten und brummten. Die Lastwagen streuten Kies. Die Dampfwalzen drückten das Straßenbett unter ihren gewaltigen Stahlzylindern mit einem Gewicht zusammen, das so
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