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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
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welcher man Wasser sucht, das Gesicht gegen die Erde gewendet, auf den Boden, und indem man das Kinn auf die Erde setzt und fest stützt, sehe man über jene Fläche hin. So wird nämlich, wenn das Kinn unbeweglich steht, das Auge nicht unstet höher streben …«
    Attilius kniete sich auf das versengte Gras, beugte sich vor und richtete den Holzblock in einer Linie mit dem fünfzig Schritt entfernten Kreidekreuz aus. Dann bettete er das Kinn in die Einkerbung und breitete die Arme aus. Die Erde war noch warm von gestern. Als er sich ausstreckte, legten sich Ascheteilchen auf sein Gesicht. Kein Tau. Siebenundachtzig Tage ohne Regen. Am Rande seiner Sichtlinie sah er Corax eine obszöne Geste machen. Er schob den Unterleib vor und zurück – »Unser Aquarius hat keine Frau, also versucht er es stattdessen mit Mutter Erde zu treiben!« –, und dann verdunkelte sich rechts von ihm der Vesuv, und ein Licht schoss aus seinem Rand hervor. Eine Hitzewelle traf Attilius' Wange. Als er über die Bergflanke schaute, musste er die Hand heben, um sein Gesicht gegen das gleißende Licht abzuschirmen.
    »An der Stelle nun, an welcher man Dünste sich kräuselnd in die Luft erheben sieht, da schlage man einen Schacht hinab, denn an einem trockenen Ort kann sich dieses Anzeichen nicht finden …«
    Man sieht es schnell, pflegte sein Vater ihm zu sagen, oder man sieht es überhaupt nicht. Er versuchte, den Boden rasch und methodisch abzusuchen, und ließ seinen Blick von einem Abschnitt zum nächsten wandern. Aber es schien alles miteinander zu verschwimmen – verdorrtes Braun und Grau und Streifen rötlicher Erde, die schon jetzt in der Sonne zu flimmern begannen. Seine Augen trübten sich. Er stützte sich auf die Ellbogen, wischte beide Augen mit dem Zeigefinger ab und ließ das Kinn wieder sinken.
    Da!
    Es war so dünn wie eine Angelschnur, nicht »sich kräuselnd« oder »sich erhebend«, wie Vitruv versprochen hatte, sondern dicht über dem Boden dahinzuckend, als wäre ein Haken an einem Felsbrocken hängen geblieben und jemand ruckte an der Schnur. Es kam im Zickzack auf ihn zu. Und verschwand. Er rief und zeigte – »Dort, Becco, dort!« –, und der Maurer trabte auf die Stelle zu. »Etwas zurück. Ja. Da. Markiere die Stelle.«
    Er rappelte sich hoch und eilte auf die Männer zu, wischte sich die rote Erde und die schwarze Asche vom Vorderteil seiner Tunika. Lächelnd hielt er den Zauberblock aus Zedernholz hoch über seinen Kopf. Die drei hatten sich um die Stelle versammelt, und Becco versuchte, den Pfahl in die Erde zu rammen, aber der Boden war zu hart, um ihn weit genug hineinzutreiben.
    Attilius war begeistert. »Habt ihr es gesehen? Ihr müsst es gesehen haben. Ihr wart näher daran als ich!«
    Sie starrten ihn verständnislos an.
    »Es war merkwürdig, ist euch das aufgefallen? Es ist so aufgestiegen.« Er machte in der Luft mit der flachen Hand eine Reihe von waagerechten Hackbewegungen. »Wie Dampf aus einem Kessel, an dem man rüttelt.«
    Er schaute von einem zum anderen, mit einem Lächeln, das zuerst selbstsicher war und dann verschwand.
    Corax schüttelte den Kopf. »Deine Augen spielen dir Streiche, hübscher Knabe. Hier oben gibt es keine Quelle. Das habe ich dir gesagt. Ich kenne diese Berge seit zwanzig Jahren.«
    »Und ich sage dir, ich habe sie gesehen.«
    »Rauch.« Corax stampfte mit dem Fuß auf die trockene Erde, und eine Staubwolke stieg auf. »Ein Buschfeuer kann tagelang unter der Erde weiterbrennen.«
    »Ich kenne Rauch. Ich kenne Wasserdampf. Das war Wasserdampf.«
    Sie taten so, als hätten sie nichts gesehen. Anders konnte es nicht sein. Attilius ließ sich auf die Knie nieder und klopfte auf die trockene rote Erde. Dann fing er an, mit den bloßen Händen zu graben, schob seine Finger unter die Steinbrocken und warf sie beiseite, riss an einer langen, verkohlten Wurzel, die sich nicht lösen wollte. Etwas war hier zum Vorschein gekommen. Da war er ganz sicher. Weshalb war der Efeu so rasch wieder zum Leben erwacht, wenn es keine Quelle gab?
    Ohne sich umzudrehen, sagte er: »Holt das Werkzeug.«
    »Aquarius …«
    »Holt das Werkzeug!«
    Sie gruben den ganzen Vormittag, während die Sonne langsam über dem blauen Glutofen des Golfs aufging und sich aus einer gelben Scheibe in einen weißen Gasstern verwandelte. Der Boden knarrte und straffte sich in der Hitze wie die Sehne von einer der riesigen Belagerungsmaschinen seines Urgroßvaters.
    Einmal kam ein Junge vorbei, der eine
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