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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji
Autoren: Robert Harris
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grandioses Bauwerk – eine der größten Leistungen der Wasserbaukunst, die es je gegeben hatte. Es war eine Ehre, für sie verantwortlich zu sein. Irgendwo da draußen, an der gegenüberliegenden Seite des Golfs, hoch oben in den Kiefernwäldern auf den Bergen des Apennin, fing der Aquädukt die Quellen des Serinus ein und beförderte das Wasser westwärts – in gewundenen unterirdischen Leitungen, auf mehrgeschossigen Bogenarkaden über Schluchten, in breiten Kanälen durch Täler –, die ganze Strecke bis hinunter in die Ebenen von Campania, dann um die andere Seite des Vesuv herum, nach Süden zur Küste bei Neapolis und schließlich auf dem Rücken der Halbinsel Misenum zu der staubigen Hafenstadt, eine Entfernung von rund sechzig Meilen, mit einem ganz leichten Gefälle von nur etwa fünf Fingerbreit auf hundert Ellen. Sie war der längste Aquädukt der Welt, noch länger als die großen Aquädukte Roms, und viel komplizierter, denn während ihre Schwestern im Norden nur eine Stadt speisten, versorgte der gewundene Hauptstrang der Augusta, die so genannte Matrix, nicht weniger als neun Orte am Golf von Neapolis: zuerst Pompeji am Ende einer langen Abzweigung, dann Nola, Acerrae, Atella, Neapolis, Puteoli, Cumae, Baiae und schließlich Misenum.
    Und genau das war das Problem, dachte der Wasserbaumeister. Sie musste zu viel leisten. Rom hatte mehr als ein halbes Dutzend Aquädukte, und wenn einer versiegte, konnten die anderen den Mangel ausgleichen. Aber hier unten gab es keine Reserve, zumal während der jetzigen Dürre, die nun schon den dritten Monat andauerte. Brunnen, die Generationen mit Wasser versorgt hatten, waren zu Staubröhren geworden. Flussbetten hatten sich in Pfade verwandelt, auf denen die Bauern ihr Vieh zum Markt trieben. Selbst die Augusta wies Anzeichen von Erschöpfung auf. Der Wasserstand in ihrem riesigen Reservoir sank von Stunde zu Stunde, und es war dieser Umstand, der ihn vor Sonnenaufgang in die Berge getrieben hatte, zu einer Zeit, in der er eigentlich im Bett liegen sollte.
    Aus dem Lederbeutel an seinem Gürtel holte Attilius einen kleinen Block aus Zedernholz hervor, in den an einer Seite eine Kinnstütze eingeschnitzt war. Die Oberfläche des Holzes war von der Haut seiner Vorfahren geglättet und poliert. Angeblich hatte Vitruv, der Architekt des Göttlichen Augustus, seinem Urgroßvater das Stück Holz als Talisman geschenkt, und der alte Mann hatte behauptet, dass der Geist Neptuns, des Wassergottes, in ihm lebte. Attilius hatte für Götter nichts übrig; Knaben mit Flügeln an den Füßen, Frauen, die auf Delphinen ritten, Graubärte, die in Wutanfällen Blitze von Bergesgipfeln herabschleuderten – das waren Geschichten für Kinder, nicht für Männer. Er glaubte stattdessen an Steine und Wasser und an das tägliche Wunder, das sich ereignete, wenn man zwei Teile gelöschten Kalk mit fünf Teilen Puteolanum – dem roten Sand dieser Gegend – vermischte und so eine Substanz erhielt, die unter Wasser zu etwas abband, das härter war als Fels.
    Und dennoch – nur ein Narr konnte leugnen, dass man auch Glück haben musste, und wenn dieses Erbstück es ihm bringen konnte … Er fuhr mit dem Finger an der Kante entlang. Einen Versuch war es allemal wert.
    Seine Vitruv-Pergamente hatte er in Rom zurückgelassen. Nicht, dass das etwas ausmachte. Seit seiner Kindheit waren sie ihm eingehämmert worden, während andere Jungen sich mit Vergil beschäftigten. Noch immer wusste er ganze Passagen auswendig.
    »Kennzeichen der Stelle aber, an welchen Bodenarten Wasser zum Vorschein kommt und gefunden werden kann, sind: zarte Binsen, wilde Weiden, Erlen, Keuschlamm, Schilf, Efeu und andere Gewächse der Art, welche ohne Feuchtigkeit nicht gedeihen können …«
    »Corax, dort drüben hin«, befahl Attilius. »Corvinus hierher. Becco, nimm den Stab und markiere die Stelle, die ich dir zeige. Und ihr beiden anderen haltet die Augen offen.«
    Corax warf ihm im Vorbeigehen einen bösen Blick zu.
    »Später«, sagte Attilius. Der Aufseher stank ebenso stark nach Groll wie nach Wein, aber sie konnten ihren Streit austragen, wenn sie wieder in Misenum waren. Jetzt mussten sie sich beeilen.
    Ein grauer Dunst hatte die Sterne ausgelöscht. Der Mond war untergegangen. Fünfzehn Meilen weiter östlich wurde, ungefähr in der Mitte des Golfs, die bewaldete Pyramide des Vesuv erkennbar. Hinter ihr wurde die Sonne aufgehen.
    »Man lege sich, noch ehe die Sonne aufgegangen ist, in der Gegend, in
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