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Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman

Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman

Titel: Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
Autoren: Carin Gerhardsen
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konnte er im Zweifelsfall leben.
    *
    Thomas hatte sich in einiger Entfernung einen Platz gesucht. Jetzt war er sich sicher, dass es König Hans war. Thomas saß mit dem Rücken in Fahrtrichtung, damit er ihn studieren konnte. Nicht von Angesicht zu Angesicht natürlich – er hatte sich so platziert, dass einige Leute zwischen ihm und dem Objekt seines Interesses saßen. So konnte er das Spiegelbild von König Hans in der Fensterscheibe vor sich hervorragend sehen.
    Entspannt und selbstbewusst wirkte er, eine große, schlanke Erscheinung. In Gedanken versunken hatte er die Zeitung im Schoß zusammengefaltet und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Es sah fast so aus, als würde hin und wieder ein kleines Lächeln über sein Gesicht huschen. Thomas starrte fasziniert hinüber und fragte sich, worüber er sich freute. Hatte er jemanden, der auf ihn wartete? Jemanden, der sich freute, wenn er nach Hause kam? Hatte er Gardinen vor dem Fenster und Kissen auf dem Sofa?

    Der Mann ließ seinen Blick über die anderen Menschen im Waggon schweifen, und für einen Moment begegneten sich ihre Blicke im spiegelnden Fenster. War es Verachtung, was Thomas in diesen blauen Augen sah? Angesichts seiner eigenen, unterwürfigen Haltung, seiner ungepflegten Frisur und seines ängstlichen Blickes wäre das auch wenig verwunderlich gewesen. Schließlich war er ein armer Wicht, der andere Menschen nur unterwürfig anblickte, wenn er sie überhaupt anzuschauen wagte.
    Plötzlich begann die Beleuchtung zu flackern, und für einige Sekunden wurde es dunkel. Als das Licht wieder anging, war der Mann in die Beobachtung der Wassertropfen versunken, die sich ihren Weg über die Fensterscheibe suchten. Thomas konnte ungestört fortfahren, diese Erscheinung aus seiner Kindheit genau zu betrachten.
    Er dachte an all die Mützen, die auf dem Heimweg von der Vorschule auf den Dächern und Ladeflächen vorbeifahrender LKW gelandet waren. Er dachte an seine Zeichnungen, die er am Ende des Jahres mit nach Hause nehmen und dort vorzeigen sollte, die stattdessen aber zur großen Belustigung aller Kinder Stück für Stück in einem Gully verschwunden waren. Er dachte an zerrissene Hosen, verdreckte Jacken und zerschrammte Knie, und er dachte an Carina Ahonen, die beim gemeinsamen Singen immer auf den Knien der Vorschullehrerin sitzen und vorsingen durfte, was die anderen Kinder nachsingen sollten. Sie durfte darüber bestimmen, was gemalt werden sollte, und wenn sie »Pferde« sagte, dann malten alle Kinder Pferde, Pferde und nochmals Pferde, nichts anderes war erlaubt. Seine Pferde waren so misslungen, dass sie zur allgemeinen Belustigung zur Schau gestellt wurden.
    Er dachte an das große grüne Auto draußen auf dem Hof, in das nur sechs Kinder passten. Zwei mussten es anschieben, und er und Katarina schoben es an, tagein, tagaus, in der naiven Hoffnung, dass auch sie eines Tages in diesem Auto sitzen durften. Die Vorschullehrerin nahm es sehr genau damit, dass jeder einmal fahren durfte, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund schien sie Thomas und Katarina ständig zu vergessen. Hin und wieder war es vorgekommen, dass Thomas als Erster im Auto war, aber sie hatten ihn wieder hinausgeschickt, und er musste anschieben, denn das schien die natürliche Ordnung der Dinge zu sein. Die Vorschullehrerin lächelte dazu jedenfalls nur ihr übliches nettes Lehrerinnenlächeln.
    Einmal, so erinnerte er sich, hatten ihm Hans und Ann-Kristin die Mütze weggenommen und sie einander immer wieder zugeworfen, hin und her, über seinen Kopf hinweg. Thomas war es nicht gelungen, sie zu fangen, aber eine plötzliche Eingebung hatte ihm den Mut geschenkt, Hans die Mütze vom Kopf zu reißen und damit davonzulaufen. Natürlich hatten sie ihn eingeholt, ihn grün und blau geschlagen und ihm die Mütze wieder abgenommen. Als er am selben Tag nach Hause gekommen war, hatte die Mutter von Hans bereits seinen Vater angerufen und sich darüber beschwert, dass Thomas die Mütze ihres Sohnes ruiniert hätte. Also wurde Thomas mit zehn Kronen in der Hand zu Hans nach Hause geschickt, um sich zu entschuldigen. Über seine Mütze, die verschwunden war, hatte aus welchem Grund auch immer niemand gesprochen.

    Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als der Zug hielt und der Mann, den er beobachtete, aussteigen wollte. Also stand auch Thomas auf, um dem Schatten seiner Vergangenheit weiter zu folgen.
    *
    Das Reihenhaus lag nur ein paar Gehminuten von der U-Bahn-Station Enskede Gård
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