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Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman

Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman

Titel: Pfefferkuchenhaus - Kriminalroman
Autoren: Carin Gerhardsen
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konnte. Sie hatte immer MTV geguckt, wenn sie Gesellschaft brauchte. So lauschte sie auch jetzt eine Weile Christina Aguilera und betrachtete die gut gebauten Tänzer, die sich alle auf die gleiche Art zur Musik bewegten. Ihr Zorn verrann genauso schnell, wie er gekommen war. Also schaltete sie den Fernseher wieder aus und ging zurück in die Küche, wo sie mit der Zubereitung des Essens fortfuhr.
    *
    Als Ingrid die Augen wieder aufschlug, saß Katarina im Sessel und aß.
    »Fühlst du dich jetzt besser, wo du geschlafen hast?«, fragte sie mit ruhiger und kühler Stimme.
    Es war nur schwer zu glauben, dass dies derselbe Mensch sein sollte wie der, der sich nur wenige Minuten zuvor in unkontrollierter Wut über sie geworfen, sie geschlagen und angeschrien hatte. Sie spürte zum ersten Mal, wie sehr die Angst sie in ihren Klauen hielt. Ihre Gefangennahme war in gemächlichem Tempo und in kontrollierter Form vor sich gegangen, sie war eher verblüfft als ängstlich gewesen. Jetzt aber wusste sie, dass es hinter all der Beherrschung, der kalt berechnenden Fassade auch einen wilden, unberechenbaren Menschen gab. Einen Menschen, der wahrscheinlich nicht einmal selbst wusste, was hinter der nächsten Ecke seines Bewusstseins lauerte.
    »Du hast gesagt, dass du mir nichts Böses zufügen würdest«, sagte Ingrid leise, um den schlummernden Wahnsinn möglichst nicht wieder zum Leben zu erwecken.
    »Aber ich habe gelogen«, antwortete Katarina mit einem eiskalten Lächeln. »Das kann man sich ab und zu auch einmal gönnen, oder? Das Leben ist voller Überraschungen – zum Glück. Stell dir vor, wie vorhersehbar und sinnlos unser Dasein wäre, wenn man schon wüsste, wie alles endet. Du hast versprochen, dass alle mal mit dem grünen Auto fahren dürfen, aber so war es nicht. Ich durfte es nie. Immer und immer wieder schob ich es an, ein ganzes Jahr lang, in der Hoffnung, dass ich auch einmal fahren dürfte, aber das durfte ich nie. Du lügst, wenn es dir in den Kram passt, also brauchen wir meine Aussagen vielleicht auch nicht immer auf die Goldwaage zu legen.«
    »Wie spät ist es?«, fragte Ingrid.
    Die Zunge klebte ihr bei jeder Silbe am Gaumen fest, sie brauchte wirklich etwas zu trinken.
    »Oh, das weiß ich nicht. Ich habe keine Uhr, ich schere mich nicht um die Zeit. Das hier braucht eben so lange, wie es braucht. So ist es mit allen anderen Dingen ja auch.«
    »Hast du keine Arbeit, um die du dich kümmern musst?«, wollte Ingrid wissen.
    »Nein«, antwortete Katarina. »Das hier ist meine Arbeit – verrückte Sachen zu tun. Früher, als ich noch im Krankenhaus gewohnt habe, bin ich in der Beschäftigungstherapie gewesen, aber dann haben sie dichtgemacht, und jetzt mache ich, was ich will.«
    »Wo wohnst du denn jetzt?«
    »Ich wohne doch jetzt bei dir, Tante Ingrid.«
    »Aber davor? Du musst doch irgendwo gewohnt haben?«
    »Ich wohne zu Hause bei Mama in Sundbyberg. Wenn es mir passt. Manchmal passt es mir, manchmal nicht. Manchmal wohne ich in einem Gasthof in Lidingö. Ich mache, was ich will.«
    Ingrid lag da und betrachtete sie lange, aber Katarina nahm keine Notiz davon. Sie schien in ihre eigenen Gedanken versunken zu sein und schaute verträumt aus dem Wohnzimmerfenster in die Novemberdunkelheit hinaus. Sie war ein elegantes Mädchen. Sie war ziemlich groß, hatte lange blonde Haare und eine gute Körperhaltung, die Stolz ausstrahlte. Sie drückte sich geschickt aus, was für Bildung sprach. Es hätte nicht so kommen müssen, dachte Ingrid in einem plötzlichen Anfall von Mitgefühl. Dann machte sich die Wirklichkeit wieder bemerkbar. Die Schmerzen im Oberschenkel waren kaum noch zu spüren, wenn sie ganz still lag, aber ihr Gesicht tat weh, ihr Magen rief nach Nahrung, der Mund und die Kehle nach etwas zu trinken, und dann diese verdammten Hände. Die Schmerzen wollten nicht verschwinden. Sie spürte, dass sie wieder pinkeln musste. Sie war vom vorigen Mal noch nicht getrocknet, und jetzt war es schon wieder so weit. Man hatte sie erniedrigt, sie ihres Stolzes und ihrer Menschenwürde beraubt, reduziert auf ein jämmerliches kleines Würmchen, das hilflos dalag und sich einnässte.
    *
    Katarina aß schweigend ihre Fleischbällchen und ihre Kartoffeln, ohne etwas zu schmecken. Sie dachte an ihre Mutter, die sie nicht mehr gesehen hatte, seit das Ganze hier begonnen hatte. Ihre Mutter war alt – noch älter als Tante Ingrid –, sie war schon immer alt gewesen. Auf Fotos aus der Zeit, bevor Katarina geboren
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