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Pestmond (German Edition)

Pestmond (German Edition)

Titel: Pestmond (German Edition)
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nun nicht mehr sicher war, ob er tatsächlich einer war. Er war alt, das stimmte, sehr alt sogar, doch Greisenhaftes hatte er wenig an sich. »Aber er ist auch die Stille, die dir zuhört, wenn du deine Wünsche flüsterst, und die Schulter, an der du dich ausweinen kannst. Und er ist der, den du beschuldigen kannst, und sogar der, den du hassen darfst, wenn das das Einzige ist, was deinen Schmerz noch lindert.«
    Andrej sah ihn einfach nur an. Der sonderbare Greis hielt seinem Blick gerade lange genug stand, um ihn begreifen zu lassen, dass er sich auf dieses stumme Duell nur nicht einließ, weil er keinen Sinn darin sah, es zu gewinnen. Dann erschien ein verständnisvolles Lächeln auf seinem Gesicht, das ihn gleichermaßen älter als auch um Jahrzehnte verjüngt erscheinen ließ. »Das ist jetzt nicht der Moment für diese Art von Gespräch, nicht wahr?«
    Dieser Moment würde nie kommen, doch Andrej, der diesen seltsamen Mann nicht vor den Kopf stoßen wollte, reagierte nur mit einem vagen Schulterzucken.
    »Willst du mir erzählen, was passiert ist?«, fragte der Alte.
    »Wir sind angegriffen worden«, antwortete Andrej. »Er hat mir das Leben gerettet.«
    »Und wurde dabei selbst tödlich verwundet«, sagte der Fremde mitfühlend. »Jetzt verstehe ich. Du gibst nicht Gott die Schuld an seinem Tod, sondern dir.«
    Das kam der Wahrheit näher, als Andrej zugeben wollte, auch wenn sich sein Verstand zugleich nach Kräften mühte, die Behauptung als unsinnig abzutun. Er zog es vor, nicht zu antworten. Stattdessen versuchte er, möglichst unauffällig seine Hand zu befreien, doch Abu Duns gewaltige Pranke hatte sich im Tode mit solcher Kraft darum geschlossen, dass es ihm unmöglich war, sich loszureißen, ohne Abu Duns Finger zu brechen.
    »Wie ist dein Name?«, fragte der alte Mann.
    »Andrej«, antwortete Andrej, deutete mit dem Kopf auf den toten Nubier und fügte hinzu: »Abu Dun. Und du?«
    »Hamed«, antwortete der Alte, doch Andrej spürte, dass er log. Jetzt fiel ihm auch die sachte Färbung seiner Stimme auf; ein leichter Akzent, der verriet, dass der Besitzer dieser Stimme nicht in diesem Land gelernt hatte, sie zu benutzen. Nicht einmal in diesem Teil der Welt. Vermutlich hatte ein Leben unter dem unbarmherzigen Licht der Wüstensonne hatte seine Haut gegerbt und dunkel wie altes Leder werden lassen und sein Haar und den sorgsam gestutzten Bart ausgebleicht. Doch seine Züge waren nicht die eines Arabers. Zweifellos hatte er eine interessante Geschichte, doch es gab so viele interessante Geschichten wie Menschen auf der Welt, und es war unmöglich, sie alle zu kennen. Also schwieg Andrej.
    »Abu Dun«, wiederholte der angebliche Hamed, als das Schweigen unbehaglich zu werden begann. »Ein interessanter Name. Hat er ihn sich selbst gegeben oder die, die ihn gefürchtet haben?«
    »Er hatte ihn schon, als ich ihn kennengelernt habe«, antwortete Andrej.
    Hamed nickte so gewichtig, als wären diese Worte von großer Bedeutung. Dann ließ er sich auf ein Knie sinken und beugte sich vor, um Abu Duns verstümmelten Arm zu begutachten. Andrej hatte im Laufe der Nacht immer wieder Streifen aus seinem Mantel geschnitten, um Abu Duns Armstumpf neu zu verbinden, doch es war ihm trotz aller Mühe nicht gelungen, den Blutfluss ganz zu stoppen. Abu Dun war, so absurd ihm der Gedanke auch vorkommen mochte, schlichtweg verblutet. Vielleicht eine letzte, schreckliche Wirkung des Kat, in dem sich sein Freund so furchtbar getäuscht hatte.
    »Gehört ihr zu den Soldaten, die mit dem Schiff gekommen sind?«, fragte Hamed. »Oder zu denen, die sie gejagt haben?«
    Andrej gelang es nicht, seine Überraschung zu verbergen. Die Ereignisse, auf die Hamed anspielte, hatten viele Meilen entfernt stattgefunden, und das in einem Land, das äußerst dünn besiedelt war und über große Strecken hinweg gar nicht. Der angebliche Araber war erstaunlich gut informiert. In Andrej regte sich ein Anflug von Misstrauen, erlosch dann aber sofort wieder, lange bevor es wirklich Gestalt annehmen konnte.
    »Du willst nicht darüber reden«, stellte Hamed fest. »Das ist dein gutes Recht. Bitte verzeih meine Neugier! Aber man trifft in diesem Land nicht oft Fremde, mit denen man reden kann.«
    »Und noch seltener solche, die es auch wollen«, pflichtete ihm Andrej bei. Er versuchte erneut seine Hand zu befreien und zog kräftiger, den stechenden Schmerz ignorierend, der durch seine Hand schoss. Es knackte leise, wie trockener Reisig, der
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