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Paul Flemming 03 - Hausers Bruder

Titel: Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Autoren: Jan Beinßen
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Einrichtung eines Lagers für uns organisiert, das Valka-Lager in Langwasser. Vielleicht haben Sie schon einmal davon gehört.«
    »Das muss eine schwere Zeit gewesen sein«, sagte Paul beklommen.
    »Nach zwölf Monaten Barackenleben in Langwasser bin ich in ein Kinderheim gekommen – und habe dort gelernt, dass mein Schicksal nichts Außergewöhnliches war«, sagte Henlein sehr ernst. »Im Zweiten Weltkrieg wurden hunderttausende Kinder zu Waisen. Über ein Drittel dieser Kinder war auf der Flucht oder vertrieben worden. Neun von zehn Kindern hatten Bombardierungen oder Kämpfe hautnah miterlebt. . .«
    »Es muss wirklich sehr schlimm für Sie gewesen sein«, sagte Paul mitfühlend.
    »Ja«, sagte Henlein und straffte seine Schultern. »Aber es war die Normalität. In der Nachkriegszeit fiel ein traumatisiertes Kind mit seiner persönlichen Geschichte nicht besonders auf und dachte erst recht nicht, etwas Besonderes durchgemacht zu haben. – Man musste mit dem Erlebten abschließen, um voranzukommen. Man musste sich möglichst schnell neu orientieren. Nur wer sich selber hart gegen das Leben machte, hatte eine reale Überlebenschance.«
    »Und trotzdem hat Sie Ihre Vergangenheit nicht losgelassen«, sagte Paul leise.
    Henlein blickte Paul traurig an. »Das stimmt. Aber mein Gedächtnis an die Zeit vor meinem Auftauchen ist leider niemals zurückgekehrt. Ich habe keinerlei Erinnerung an meine Eltern, Großeltern oder irgendwelche eventuellen Geschwister.« Er lächelte traurig. »In meinen Träumen taucht ab und zu ein Teddybär auf, aber das ist auch schon alles, was sich womöglich als Hinweis auf meine Kindheit deuten lässt.«
    »Ein Teddy?«, fragte Paul.
    »Ja.« Henlein wirkte bedrückt. »Ein brauner Teddybär, so wie ihn eben viele Kinder besitzen. Nur dass er in meinen Träumen keinen Kopf hat.«
    »Ein kopfloser Bär – das ist ziemlich verstörend«, sagte Paul betroffen.
    »Ich habe mich daran gewöhnt. Er gehört zu meinen Nächten, und inzwischen macht mir dieser Traum auch keine Angst mehr.« Henlein griff unter seinen Kragen und zog eine Kette unter seinem Hemd hervor. »Ansonsten gibt es nur noch diesen Kettenanhänger. Den trug ich um den Hals, als man mich fand.«
    Paul beugte sich vor und betrachtete das unscheinbare Medaillon. Es war offensichtlich aus Silber und stark angelaufen. Das eingravierte Motiv war eine vereinfacht dargestellte Blume. »Aber das hat Sie in Ihrer Ahnenforschung nicht wirklich weitergebracht, oder?«, fragte er.
    Henlein schüttelte langsam den Kopf. »Natürlich nicht. Es ist die Kette eines Kindes. Ein billiger, belangloser Anhänger. Nicht einmal ein Monogramm ist vorhanden, aber wie Sie vielleicht verstehen, hänge ich daran. Das Medaillon ist meine einzige Verbindung zur Vergangenheit.« Henlein bemühte sich um einen heiteren Gesichtsausdruck, als er sagte: »Nun habe ich Sie aber lange genug aufgehalten.« Er reichte Paul noch einmal die Hand. »Wir sehen uns also morgen in Ansbach. Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
    »Mich auch«, sagte Paul, während sie sich die Hände schüttelten. »Was mich jetzt aber doch noch interessiert, ist die Herkunft Ihres Namens. Wenn Sie sich nicht an Ihr Elternhaus erinnern können, dann wohl auch kaum an Ihren Taufnamen.«
    »Nein, das kann ich tatsächlich nicht. Mein Vorname Franz wurde mir von den anderen Heimkindern gegeben. Irgendwie hat er anscheinend zu mir gepasst. Den Nachnamen durfte ich mir später als Volljähriger selber aussuchen. Ich habe Henlein gewählt, weil er ein guter alter Nürnberger Name ist.«
    Paul nickte freundlich. »Danke für Ihre Offenheit. Eine letzte Bitte noch: Darf ich Ihren Kettenanhänger fotografieren?«
    »Ich habe nichts dagegen einzuwenden«, sagte Henlein nach kurzem Nachdenken.
    Ein außergewöhnlicher Mensch, dachte Paul, als er zurück zu seinem Renault ging. Henlein war ihm gegenüber ausgesprochen freundlich gewesen und hatte ein bescheidenes und zurückhaltendes Auftreten an den Tag gelegt. Zweifellos wusste er jede Menge über Hauser und dessen Epoche. Vor allem aber Henleins eigene Vergangenheit übte auf Paul eine gewisse Faszination aus. Eine Amnesie, welche die komplette Kindheit ausblendete, das war schon ein schwerer Schicksalsschlag, und Paul mochte kaum glauben, dass Henlein diesen Identitätsverlust tatsächlich folgenlos verkraftet hatte.
    Er hatte seinen Renault, der in der Schlotfegergasse abgestellt war, beinahe erreicht, als sein Handy
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