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Paul Flemming 03 - Hausers Bruder

Titel: Paul Flemming 03 - Hausers Bruder
Autoren: Jan Beinßen
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Szene zu setzen. Die historische Kulisse trug ihr Übriges dazu bei, dass Henlein auf Pauls hochauflösenden Digitalaufnahmen schließlich als interessante Persönlichkeit erschien, die dem Betrachter viel zu sagen hatte.
    Nach einer guten halben Stunde intensiver Fotoarbeit verstaute Paul seine Ausrüstung wieder in seiner Tasche.
    Henlein bedankte sich freundlich und reichte ihm seine Visitenkarte.
    »Danke«, sagte Paul und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Septembersonne hatte es in sich. »Allerdings müssen wir noch einen zweiten Termin ausmachen. Mein Auftraggeber sagte etwas davon, dass Sie im Besitz eines Kleidungsstücks von Hauser sind? Das ist der Aufhänger der ganzen Story, den wir deshalb unbedingt im Bild haben müssen.« Paul las Henleins Karte mit seiner auch von Blohfeld schon erwähnten Adresse und schlug vor: »Soll ich morgen Nachmittag bei Ihnen vorbeikommen, damit wir das erledigen können? Von meiner Wohnung aus habe ich es sowieso nicht weit bis zu Ihnen.«
    Henleins Dauerlächeln verschwand plötzlich aus seinem runden Gesicht. »Nein, nicht bei mir zuhause«, er zögerte, bevor er weitersprach, »meine Frau hat nicht viel für mein Hobby übrig. Sie verstehen schon: Immer nur Hauser, Hauser, Hauser – und die Ehefrau kommt dabei zu kurz.« Er lachte gekünstelt und etwas angespannt.
    »Wie wäre es dann mit Hausers Nürnberger Unterkunft? Er hat doch einige Jahre in der Stadt gelebt, habe ich recht?«
    »Das stimmt: bei Professor Daumer. In einem Haus auf der Hinteren Insel Schütt. Ein altes Gebäude, verwinkelt, mit vielen kleinen Räumen und Kammern. In seinem rückwärtigen Teil besaß Daumer eine Wohnung im ersten Obergeschoss, die er Hauser zur Verfügung gestellt hatte. Aber«, Henlein sah ihn bedauernd an, »Daumers Haus wurde wie die gesamte übrige Bebauung der Hinteren Insel Schütt bei dem großen Fliegerangriff am 2. Januar 1945 völlig zerstört. Die Fläche ist heute bloß noch eine Grünanlage mit der darunterliegenden Karstadt-Tiefgarage.« Mit neu gewonnenem Optimismus fügte er rasch hinzu: »Was halten Sie davon, wenn wir uns in Ansbach treffen? Im Hofgarten, am Hauser-Denkmal, dem Tatort des Hauser-Attentats.«
    Paul stimmte zu, dort gäbe es bestimmt gute Motive, und sie vereinbarten einen Termin am Sonntagmittag.
    Henlein bedankte sich erneut für Pauls Arbeit und wollte sich schon verabschieden, als der Fotograf sich der Neugierde halber erkundigte: »Wenn ich fragen darf: Weshalb interessieren Sie sich eigentlich so stark für Kaspar Hauser?«
    Henlein stutzte für einem Moment. Er fuhr sich durch das schüttere Haar, als hätte ihn Paul mit seiner Frage aus dem Konzept gebracht. Schließlich antwortete er mit seiner weichen Stimme: »Ich bin selbst Waise. – Hauser ist ein Schicksalsgenosse. Er ist für mich wie eine Art Bruder.«
    Paul war erstaunt. Mit einer solchen Antwort hatte er nun ganz und gar nicht gerechnet. »Ihre Eltern sind also früh verstorben?«, erkundigte er sich taktvoll.
    Abermals war Henleins Antwort für Paul überraschend: »Das weiß ich leider nicht. Ich habe sie nie kennengelemt.«
    Paul sah Henlein fragend an.
    Dieser musterte ihn, als wollte er prüfen, ob Paul es überhaupt wert war, ihm seine Lebensgeschichte zu erzählen. Dann begann er langsam zu erzählen: »Sagt Ihnen der Begriff › Displaced Person ‹ etwas? Die Alliierten haben diese Bezeichnung 1944 eingeführt. Gemeint waren damit all die armen Teufel, die sich kriegsbedingt fern der Heimat aufhielten und nicht ohne Hilfe zurückkehren konnten. Zwangsarbeiter, versprengte Soldaten und viele, viele Kinder.«
    Paul begann, seine Frage zu bereuen. Er hatte Henlein nicht in Verlegenheit bringen wollen.
    »Ich selbst war so eine › Displaced Person ‹ «, redete Henlein weiter. »Kurz nach dem Kriegsende bin ich identitätslos in Nürnberg aufgegriffen worden. Damals war ich sechs oder sieben Jahre alt, nur mit Fetzen bekleidet und hatte Brand – und Schnittverletzungen an Gesicht und Körper.« Im Gegensatz zu seinen Ausführungen über Kaspar Hauser leierte Henlein seine eigene Lebensgeschichte tonlos herunter wie ein auswendig gelerntes, aber dennoch ungeliebtes Gedicht. »Ich war völlig verwirrt und hatte keinerlei Erinnerung an irgendetwas davor. Ich bin medizinisch versorgt worden, soweit das die Zustände der damaligen Zeit zuließen. Auch eine Unterkunft bekam ich zugewiesen: Unmittelbar nach Beendigung der Kampfhandlungen hatte eine Hilfsorganisation die
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