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Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter

Titel: Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Autoren: Jan Beinßen
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grelles Scheinwerferlicht drang heraus.
    »Besser spät als nie«, begrüßte ihn Blohfeld. Hinter der schmächtigen Gestalt des grauhaarigen Reporters entfaltete sich die geballte Schaffenskraft der modernen Kriminalistik: Im gleißenden Licht mehrerer wattstarker Strahler waren Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen damit beschäftigt, jeden Krümel in dem antiquiert eingerichteten Arbeitszimmer umzudrehen. Die Kriminalbeamten gingen mit Pinzetten, Pipetten und Tupfern zu Werke, sammelten jedes verdächtig erscheinende Utensil und steckten es in durchsichtige Plastikbeutelchen. Mittendrin im emsigen Treiben, ausgestreckt auf einem Orientteppich, lag ein mit weißen Laken bedeckter Körper.
    »Kleines Quiz«, sagte Blohfeld und zupfte sich sein burgunderrotes seidenes Halstuch zurecht, »seit wann gibt es Nürnberger Rostbratwürste?«
    Paul, eingenommen von den Vorgängen um ihn herum, zuckte die Schultern.
    »1313. Aus diesem Jahr stammt zumindest die erste urkundliche Erwähnung«, sagte der Reporter und pustete sich eine Strähne seines dünnen grauen Haares aus der hohen Stirn.
    »Zweite Frage: Warum sind Nürnberger Würstchen so klein?«
    »Moment, das weiß ich!« Paul hob seinen Zeigefinger. »Weil die Nürnberger Wirte sie damals auch nach der Sperrstunde anbieten wollten und sie somit durch Schlüssellöcher hindurch verkaufen mussten.«
    »Könnte man gelten lassen. Eine andere Theorie besagt, dass sie den Häftlingen im historischen Lochgefängnis unter dem alten Rathaus durchs Zellenschloss gereicht wurden und deshalb so kompakt sein mussten.«
    »Habe ich die Prüfung also bestanden?«, frotzelte Paul.
    Blohfeld strich sich über seine schmale Himmelfahrtsnase.
    »Bestanden haben Sie erst, wenn Sie mir ordentliche Tatortfotos liefern.«
    Paul setzte ein Weitwinkelobjektiv auf den Bajonettverschluss seiner Nikon. Er schloss einen leistungsstarken Stabblitz an und orientierte sich durch den Sucher der Kamera. Konzentriert lichtete er den Raum ab. Zunächst Fotos des abgedeckten Toten auf dem Fußboden, dann folgten Aufnahmen des Schreibtisches mit zerwühlten Unterlagen darauf, anschließend Bilder von weiteren Möbeln, den Wänden und teuer aussehenden Dekorationsgegenständen. Zuletzt fotografierte Paul die Scheibe einer Verandatür, die vermutlich der Täter zerbrochen hatte, um in die Villa einzudringen.
    »Was glauben Sie eigentlich, wie viele Würstchen der alte Wiesinger durchschnittlich im Jahr hergestellt hat?«, forderte ihn Blohfeld erneut heraus.
    »Keine Ahnung«, sagte Paul. »Zweihunderttausend? Vierhunderttausend? Das ist schwer zu schätzen; man isst ja immer mehrere davon, um satt zu werden.«
    Blohfeld lächelte ihn nachsichtig an. »Rechnen ist wohl nicht Ihre Stärke«, sagte er. »Deshalb stehen Sie mit der Miete für Ihre Atelierwohnung am Weinmarkt wohl auch seit Monaten in der Kreide, was? Ich will es Ihnen sagen: dreihundert Millionen! Dreihundert Millionen von diesen verflixt leckeren kleinen Sünden. Der hat sie in alle Welt exportiert und sich daran dumm und dämlich verdient.«
    Das sieht man, dachte Paul angesichts der imposanten Kulisse.
    »Raubmord?«, fragte er den Reporter, nachdem er weitere Fotos von der zerbrochenen Verandatür gemacht hatte.
    Blohfeld sah ihn an, fuhr sich erneut über die Nase und sagte leise: »Das vermutet die Staatsanwaltschaft. Die ersten Eindrücke deuten darauf hin.«
    Paul nahm Blohfelds Verschwörerton auf, als er sich erkundigte: »Und was glauben Sie?«
    »Das weiß ich selbst noch nicht«, gestand der Reporter ein. »Aber die Alarmanlagen haben nicht ausgelöst, weder die an der Gartenmauer noch die in der Villa selbst. Das gibt einem zu denken.«
    »Ein Profi«, suchte Paul nach einer plausiblen Erklärung.
    »Warum nimmt er souverän die ersten Hürden, um dann mit brachialer Gewalt die Scheibe einzuschlagen?« Blohfeld schüttelte den Kopf. »Nein, nein, so einfach ist das nicht.«
    Paul wusste nicht recht, ob er sich Blohfelds Zweifeln anschließen sollte. Denn warum sollte man einen glasklaren Fall wie diesen unnötig komplizieren? »Wie sieht denn die offizielle Lesart aus?«, fragte er.
    Blohfeld grunzte. »Hans-Paul Wiesinger schläft in seinen Privatgemächern im ersten Stock. Er hört ein verdächtiges Geräusch. Da es bereits mitten in der Nacht und er – bis auf den alten Chauffeur – allein im Haus ist, sieht er selbst nach dem Rechten. Er überrascht einen Einbrecher in seinem Arbeitszimmer. Dieser verliert die
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