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Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter

Titel: Paul Flemming 02 - Sieben Zentimeter
Autoren: Jan Beinßen
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gab den Blick in einen weiträumigen Keller frei. Jetzt kam es darauf an, Schönberger in die richtige Richtung zu lenken. Paul durchquerte den Keller, so schnell es in seiner Verfassung ging, und spähte nach dem Gitter, das den Eisschacht umsäumte. Er entdeckte es gerade in dem Moment, als Schönberger den Tunnel verließ und sich breitbeinig und mit vorgehaltener Pistole positionierte.
    Paul war bewusst, dass er jetzt nur noch diese eine Chance haben würde. Leise drückte er sich im Schatten an der rauen Wand entlang, bis er in ausreichender Entfernung zum Eisschacht stand. Noch war er in Sicherheit: Sein Verfolger hatte ihn noch nicht bemerkt. Dann bückte er sich langsam und hob einen faustgroßen Stein auf.
    Schönberger bewegte sich behutsam vorwärts. Er spähte ins Halbdunkel der Katakomben. Paul sah sein schlohweißes Haar im schwachen Licht der Wandleuchten schimmern.
    Im Stillen verfolgte Paul jeden von Schönbergers Schritten und zählte langsam ab, bis der geeignete Augenblick gekommen schien. Dann holte er aus und warf den Stein in hohem Bogen in den Eisschacht hinein.
    Schönberger reagierte genau so, wie Paul es erwartet hatte: Er fuhr für einen Augenblick erschrocken zusammen und rannte dann auf das verrostete Eisengatter zu.
    Paul wartete, bis der Chauffeur vor ihm das Gittertor durchschritten hatte und sich auf der Suche nach ihm an den Rand des Eisschachtes vorwagte. Paul sprintete vor und versetzte den morbiden Eisenstreben einen heftigen Stoß. Das Gitter löste sich aus seiner Verankerung, kippte um und traf den völlig überrumpelten Schönberger an der Hüfte.
    Für eine kurze Zeit sah es so aus, als würde sich Schönberger halten können. Voller Angst musste Paul zusehen, wie er die Waffe in Anschlag brachte und versuchte, auf Paul zu zielen. Doch dann kippte Schönberger unversehens nach hinten weg.
    Paul hielt den Atem an. Ein ohrenbetäubendes Krachen kündete von Schönbergers Auftreffen auf dem Grund des Schachtes. Am ganzen Körper zitternd wagte sich Paul vor und sah hinunter.
    Das Bild, das sich seinen Augen nun bot, machte ihn ganz sicher nicht stolz, aber es ließ ihn dennoch erleichtert aufatmen: Schönberger lag mit weit ausgestreckten Armen und Beinen gut fünf Meter unter ihm auf einem Haufen morscher Holzbalken. Es waren die Reste des Eisgalgens.
    Ein makabrer Zufall, dachte Paul im Gehen: Schönberger war für seine Taten im wahrsten Sinne des Wortes am Galgen gelandet.

Epilog
    Die Wasseroberfläche reflektierte das Sonnenlicht, nur die Fleischbrücke warf einen Schatten. Mit leisem Plätschern passierte die venezianische Gondel den Brückenbogen, während Paul den kühnen Schwung des historischen Sandsteingemäuers bewunderte.
    »Es ist schön, dich so entspannt zu sehen«, sagte Katinka.
    Paul senkte den Blick. Die Staatsanwältin, heute in luftiger Spätsommerkleidung, saß ihm gegenüber. Direkt hinter ihr stand der Gondoliere und bewegte das prächtig lackierte Boot mit langsam fließenden Bewegungen durch das seichte Gewässer.
    Katinka beugte sich zu Paul vor. Flüsternd fragte sie ihn:
    »Sag mal – findest du es nicht auch ein wenig dekadent, wie ein Paar auf Hochzeitsreise durch Nürnberg zu schippern?«
    Paul antwortete nicht sofort. Er sah sich in aller Ruhe um. Die Gebäude, die die Ufer der Pegnitz im Kern der Altstadt säumten, hatte er nie zuvor aus dieser Perspektive gesehen. Während die Gondel gemächlich auf die urwüchsig begrünte Halbinsel mit dem Heilig-Geist-Spital zusteuerte und Paul die romantisch-imposante Kulisse der alten Reichsstadt auf sich wirken ließ, verlor er sein Herz zum wiederholten Mal an Nürnberg. In Venedig – dachte er in diesem Moment versonnen – könnte es jetzt nicht schöner sein.
    Katinka schien sich seinen Gedanken anzuschließen, denn sie ließ ebenfalls ihre Blicke schweifen, wobei ein zufriedenes Lächeln ihre Mundwinkel umspielte.
    »Die Sache mit Schönberger liegt jetzt sechs Wochen zurück«, setzte sie dann behutsam an.
    »Ja«, sagte Paul, der das Thema eigentlich nicht noch einmal anschneiden wollte. Ausweichend antwortete er: »Wie die Zeit vergeht – bald ist der Sommer vorbei.«
    Katinka musterte ihn intensiv. »Du hast mir das Leben gerettet. Ohne deine Hilfe wäre ich verblutet.«
    »Du bist gestern erst aus dem Krankenhaus entlassen worden und hast viel hinter dir. Du solltest dir über Schönberger keine Gedanken mehr machen.«
    »So einfach funktioniert die Verarbeitung von Traumata aber nicht«,
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