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Papa

Papa

Titel: Papa
Autoren: Sven I. Hüsken
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ist und seine Aussetzer (die ja nur einen winzigen Teil seines ansonsten anständigen Lebens ausgemacht haben) aus tiefster Überzeugung bereut. An dieser Stelle möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass Ihr Mann diesen Fortschritt in einer üblichen Justizvollzugsanstalt – und unter Menschen, die ihre Straftaten aus voller Überzeugung begangen haben – nicht hätte machen können.
    Selbstverständlich ist der Aufenthalt in unserer Klinik weiterhin vonnöten. Schon, um mehr Stabilität in seinem Umgang mit dem Unterbewusstsein und seinen entrückten Wunschvorstellungen zu etablieren.
    Um das zu gewährleisten, habe ich einige neue Therapieansätze entwickelt, die ich gerne mit Ihrer Hilfe, in ein paar gemeinsamen Therapiesitzungen, umsetzen würde.
    Herr Ried spricht von Ihnen mit viel Hingabe und Scham, und er würde, was geschehen ist, gerne rückgängig machen. Für seine Genesung wäre es von Vorteil, wenn er die Gelegenheit bekäme, sich mit Ihnen auszutauschen. Eine gemeinsame Sitzung erscheint mir dafür im Besonderen geeignet.
    Ich würde mich freuen, wenn Sie sich überwinden und aus sich herauswachsen würden. Bitte rufen Sie mich doch bis zum Ende der Woche unter der unten stehenden Rufnummer an.
     
    Mit freundlichen Grüßen
    Prof. Dr. med. Claudia Kramme
    Direktorin, forensische Psychiatrie Ruhrbach
     
    Michelle spürte, wie es hinter ihren Augen brannte. Durfte die Kramme so etwas einfach tun? Ohne ein offizielles Gremium, ohne das Einverständnis eines Gerichts? Oder lag am Ende beides vor?
    In diesem Land werden die Täter gehätschelt und die Opfer am Straßenrand liegen gelassen. Michelles Blut brodelte. Die Raumtemperatur schien sprunghaft ein paar Grad nach oben gestiegen zu sein. Am liebsten hätte sie etwas zerschlagen. Den Tisch, das Fenster, die ganze gottverdammte Welt.
    Dieser Direktorin würde sie gehörig die Meinung sagen. Die würde sich auf etwas gefasst machen müssen. Michelle war noch nie ein Duckmäuschen gewesen, und sie hatte nicht vor, diesen Brief auf sich beruhen zu lassen.
    Sie steckte ihn zurück in den Umschlag, als es an der Tür klingelte. Schnell wischte sie sich über das tränennasse Gesicht und öffnete.
    »Hallo Maik, komm rein.«
    Maik Wegener, ihr Exmann Nummer eins, nickte ihr zu und betrat die Wohnung. »Ist Lilly fertig?«
    »Sie hat gerade noch geduscht, kommt aber sicher gleich runter. Möchtest du einen Kaffee?«
    »Hmm«, brummte er, und Michelle wusste sofort, was es bedeutete. Maik war nie der Typ gewesen, der ausschweifend erzählen konnte. Seine Sprache war auf ein Minimum reduziert. Sie holte Kaffeepulver und einen Filter aus dem Küchenschrank.
    Für einen Moment spürte sie den Drang, ihrem Exmann den Brief der Direktorin zu zeigen. Doch sie presste die Lippen zusammen. Kramme war ihre Sache. Wie jemand erneut das Sprechen lernen musste, der einen Schlaganfall hatte, so musste sie lernen, wieder auf eigenen Beinen zu stehen.
    Maik lehnte sich an den Küchentisch und beobachtete Michelle, die versuchte, ihn nicht weiter zu beachten. Doch sie spürte seine Blicke im Nacken, und ein unangenehmer Schauer krabbelte ihren Rücken hinauf. »Hör mal«, begann sie, »ehrlich gesagt fände ich es besser, wenn
ich
Lilly von nun an zu dir bringen würde. Wäre das okay für dich?«
    Er runzelte die Stirn. »Wie soll ich das verstehen?«
    Michelle stellte die Kaffeemaschine an und drehte sich wieder zu ihm. »Meine Therapeutin möchte, dass ich den Abstand zu dir vergrößere.« Das war gelogen, und Maik war clever genug, das zu durchschauen. Aber er besaß auch den Anstand, darüber hinwegzusehen.
    Er nickte langsam. »Du willst durch die ganze Stadt fahren?«
    »Ich will mein Leben auf die Reihe kriegen. Ich will mit der Vergangenheit abschließen. Ein für alle Mal.«
    »Hm, und ich will nur helfen.«
    Michelle seufzte und rief sich all die Gründe in Erinnerung, warum es damals mit ihnen nicht funktioniert hatte. »Aber ich will deine Hilfe nicht. Verstehst du? Ich will einfach neu anfangen und nicht ständig an das Gewesene erinnert werden.«
    »Ich störe.«
    »So darfst du das nicht sehen. Ich …«
    Maik winkte ab. »Nein, ist okay. Ich möchte ja auch, dass du den ganzen Scheiß hinter dir lässt. Und wenn das mein Beitrag dazu sein soll, dann ist es so.«
    Sie versuchte es anders. »Hör zu, dein Job …«
    Er neigte den Kopf zur Seite. »Das ist es? Weil ich Polizist bin?«
    Nein, das war es nicht. Nicht wirklich. Aber alles an ihm erinnerte sie
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