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P. S. Ich töte dich

Titel: P. S. Ich töte dich
Autoren: Sebastian Fitzek
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mitgeteilt hatte:
»Eine Gelbkörperhormonschwäche. Das nächste Mal nehmen wir Utrogest zum Aufbau der Gebärmutterschleimhaut.«
    Das nächste Mal. Scheiße. Es gab kein nächstes Mal.
    »Es sei denn, du tötest sie.«
    Zuerst hatte er sich gefragt, was zum Teufel in ihn gefahren war, so etwas Morbides zu denken; dann hatte er das Wasser abgestellt
     und gemerkt, dass es gar nicht seine
Gedanken
waren, die er gehört hatte. Sondern
Stimmen
, die zu ihm sprachen. Kinderstimmen. Verschiedene, die alle das Gleiche sagten:
    »Du musst sie töten.«
    Von diesem Tag an war nichts mehr wie zuvor. Martin war selbst Psychiater, spezialisiert auf psychosomatische Orthopädie; das bedeutete, er musste sich mehr mit Phantomschmerzen im Arm als mit schizophrenen Wahnvorstellungen im Kopf beschäftigen. Trotzdem war er genügend sensibilisiert, um die ersten Anzeichen ernst zu nehmen und sich nicht die Welt zurechtzubiegen. Denn das war das Wesen einer jeden Geisteskrankheit: die Realität zu leugnen, während man nach Argumenten suchte, weshalb die eigene Wahrnehmung richtig und die der anderen falsch war. Die vielen unterschiedlichen Kinderstimmen, die ihn später bis in seine Träume verfolgten und ihm wieder und wieder befahlen,
»sie«
zu töten, bevor er selbst sterben würde,
waren nur ein Hirngespinst. Darum aber waren sie nicht weniger gefährlich.
    Er suchte Dr. Jonas Gorman auf, einen alten Freund aus Studientagen, der ihn medikamentös einstellte, nicht ohne ihn vor den schweren Beeinträchtigungen zu warnen, die damit auf ihn zukommen würden. Und weder Gorman noch der Beipackzettel hatten zu viel versprochen. Mundtrockenheit, Hautekzeme, Übelkeit, Migräne, depressive Verstimmungen, Gewichtszunahme – Martin hatte ein Best-of-Medley aller gängigen Nebenwirkungen seiner Psychopharmaka abgearbeitet.
    Kein Wunder, dass ihre Ehe in jenen Tagen »Schlagseite« bekam, wie sein Vater es formuliert hätte. Bereits die ewigen Fehlversuche hatten sie zermürbt und ihre Spuren hinterlassen. Und gerade jetzt, da alle Hoffnung schon wieder zerstört schien, hätte Nadja einen psychisch starken Partner an ihrer Seite gebraucht, keinen Schizo mit Visionen. Selbst noch betäubt von der Faust des Schicksals, die ihr in den Unterleib geschlagen und das Ungeborene entrissen hatte, wollte Nadja den Beteuerungen der Ärzte keinen Glauben schenken, dass bis zu 70 Prozent aller Schwangerschaften abgehen, die meisten davon unbemerkt. Sie machte ihr fortgeschrittenes Alter für die Fehlgeburt verantwortlich, verfiel erst in Selbstvorwürfe, zu lange mit dem Kinderwunsch gewartet zu haben, dann in Selbstmitleid, gleich doppelt gestraft zu sein: mit einer schwachen Gebärmutterschleimhaut
und
mit einem noch schwächeren Mann. Ihr Mitleid steigerte sich in Wut und später sogar in Hass, wenn sie im Fernsehen Berichte über ungewollte Schwangerschaften junger Mütter sah. Und Martin konnte ihre Wut verstehen. Gott musste – falls es ihn wirklich gab – einen exzentrischen Sinn für Humor haben, wenn es ihm gefiel, bei einer drogensüchtigen Kinderprostituierten das Kondom des Freiers platzen zu lassen, während er Nadja – einer Mutter, die ihr eigenes Leben für das Wohl ihres Babys opfern würde – einfach einen Strich durch die Hormonrechnung machte.
    Nadja litt darunter, dass die Welt auf einmal mit Kinderwagen, werdenden Müttern und erschöpften Vätern bevölkert zu sein schien. Die Werbung pries nur noch Windeln, Babynahrung und Kindersitze an, und es verging kein Tag, an dem nicht irgendeine Bekannte anrief, um Glückwünsche für einen positiven Schwangerschaftstest loszuwerden. Wie sollte sie so jemals ihre Trauer verarbeiten und neue Hoffnung schöpfen können? Noch dazu mit einem Mann an der Seite, der ihr nicht zuhörte, weil er von imaginären Kinderstimmen abgelenkt wurde, die in seinem Kopf herumtobten.
    »Töte sie. Schnell. Bevor es zu spät ist.«
    Martin schreckte aus seinem Dämmerzustand hoch. Fast wäre ihm die Bibel aus der Hand gefallen.
    »Süße?«, rief er in Richtung Badezimmer, doch seine Worte wurden vom Wasser verschluckt, das in die alte, emaillierte Badewanne prasselte. Nadja duschte niemals unter einer halben Stunde, würde also frühestens in zehn Minuten herauskommen. Anfangs hatte er sich oft darüber aufgeregt, dass sie zu den wenigen Menschen zählte, die mehr Wasser beim Duschen als beim Baden verbrauchten. Heute, nach all den Schicksalsschlägen, wollte er einfach nur, dass sie glücklich
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