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Ordnung ist nur das halbe Leben

Ordnung ist nur das halbe Leben

Titel: Ordnung ist nur das halbe Leben
Autoren: Emma Flint
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mehr kaufen könne, weil da laut einem Fernsehbericht unheimlich viele Giftstoffe drin steckten, oder dass ich beim Kauf von Dielen immer auf irgendein Zertifikat zum Schutz der Regenwälder achten solle. Sie liebten es nämlich, die Welt mit ihren Weisheiten und ihrem neu gewonnenen Halbwissen zu beglücken. Aber all das nahm ich auf mich für meinen Hund, der dort totale Verwöhnung (futtertechnisch) und einen sehr großen Freiraum (auslauftechnisch) genoss und sehr vergnügt schien. Aber ich vermisste ihn natürlich sehr, und deswegen hätte ich ihn gerne an diesem Tag gesehen.
    »Wartest du noch einen Moment mit mir?«, fragte ich meinen Verlobten.
    »Nein, Möhrchen, ich muss los«, sagte Jens.
    Ich schaute auf die Uhr. »Aber du hast doch noch zehn Minuten Pause.«
    »Ich muss noch was vorbereiten«, sagte er, küsste mich auf die Stirn und eilte Richtung Saldo-Bank, in der er Leiter der Kundenbetreuung war. »Und lass dich nicht ärgern!«, rief er mir noch zu.
    Ich musste lächeln. Er war so süß! Und ich konnte wirklich verstehen, dass er meinen Eltern lieber aus dem Weg ging. Das hätte ich auch gemacht, wenn sie nicht meine Eltern gewesen wären.
    Weil ich ebenfalls noch ein paar Minuten Zeit hatte bis zu dem Termin mit unserem neuen möglichen Mandanten, hielt ich Ausschau nach meinem Hund. Es wäre schön gewesen, kurz sein niedliches Gesicht mit den lustigen Augen zu sehen und sein struppiges braun-weißes Fell zu streicheln. Doch ich konnte ihn nirgends erblicken. Nun denn, das wäre auch wirklich ein Zufall gewesen, dachte ich und wandte mich zum Gehen.
    Da hörte ich plötzlich merkwürdige Geräusche, die ich nach ein paar Sekunden als Trillerpfeifen, Rasseln und Trommeln identifizierte. Eine Gruppe Demonstranten war am anderen Ende des Platzes aufgetaucht und kam in meine Richtung. Wogegen sie protestierten, konnte ich nicht erkennen, es war mir auch herzlich egal. Ich wollte schon zu meinem Büro eilen, da erregte eine Person in der ersten Reihe meine Aufmerksamkeit. Sie trug einen roten Poncho. War das etwa – meine Mutter?
    In ihrem letzten Urlaub in Bolivien hatte sie sich (wie immer) in die landestypische Kleidung verliebt. Dass sie jedes Mal mit folkloristischen Gewändern aus der Ferne zurückkehrte, hatte zwei Gründe: Erstens wiesen diese meist recht abenteuerliche Kolorierungen auf, und meine Mutter fand farbenprächtige Kleidung eben nicht nur für Kinder, sondern auch für Erwachsene angemessen. Und zweitens fiel sie damit natürlich auf wie der sprichwörtliche bunte Hund, was wiederum bei Anwesenden zu Fragen führte wie: »Wie um alles in der Welt kann man nur so rumlaufen?« Oder – und das war eher das, was die Leute laut fragten: »Wo bekommt man denn solche Kostüme?« Und das war dann der perfekte Auftakt für einen detaillierten Reisebericht, den meine Eltern wie nach einem einstudierten Skript vorbrachten und beliebig oft reproduzieren konnten, einschließlich der eingestreuten Lacher meiner Mutter über die Pointen, die mein Vater mit seiner Laientheaterstimme vorbrachte. Die Reise nach Indien, auf der ich gezeugt wurde, hatte damals auf meine Eltern wie ein Aphrodisiakum gewirkt, auch was die Liebe zu exotischen Ländern anging.
    »Wenn wir Indien geschafft haben, schaffen wir alles«, pflegten sie zu prahlen, als ob sie damals auf eigene Faust einen tollkühnen Survivaltrip durch die finstersten Gebiete des Subkontinents gemacht hätten und nicht eine geführte Gruppenreise im klimatisierten Bus. Jedenfalls waren sie der Auffassung, dass sie die ganze Welt bereisen müssten und sich auch überall zurechtfänden, solange es nur ein »Minimum an Infrastruktur« gäbe. Damit meinten sie eine Fünf-Sterne-Anlage, die sie nur zu organisierten Trips zu verlassen brauchten. Denn auch wenn sie zu Hause nicht gerade Wert auf Hygiene legten (weil sie Besseres zu tun hatte, als dauernd zu putzen, wie meine Mutter immer sagte), bevorzugten sie in der Fremde das Sicherheitsgefühl, das ihnen ein luxuriöses Ambiente mit Annehmlichkeiten wie Reinigungspersonal, Zimmerservice und hauseigener Cocktailbar vermittelte. Aber am meisten genossen sie ihren Urlaub sowieso zu Hause – dort, wo die bewundernden Blicke und neugierigen Fragen von Nachbarn, Freunden und Verwandten auf sie warteten und sie ihre extravaganten Reisen jedes Mal in aller Ausführlichkeit schildern konnten.
    Bei der letzten Reise hatte meine Mutter einen knallroten Poncho aus Alpakawolle und einen dieser runden,
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