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Orchideenhaus

Orchideenhaus

Titel: Orchideenhaus
Autoren: L Riley
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Eingangshalle und eine Reihe riesiger Räume voll strenger Möbel, die das Gebäude aussehen lassen wie ein übergroßes Puppenhaus. Ich überlege die ganze Zeit, wo sie am
Abend sitzen und fernsehen. Schließlich betreten wir ein in goldenes Licht getauchtes Zimmer, das durch drei vom Boden bis zur Decke reichende Fenster mit Blick auf Terrasse und Gärten strömt. Um den riesigen Marmorkamin sind große Sofas arrangiert, und in der hinteren Ecke, vor einem der Fenster, steht ein Flügel. Kit Crawford führt mich hin, zieht den Hocker heraus und drückt mich darauf.
    »Spiel mir was vor.«
    Als er den Deckel aufklappt, wirbelt Staub hoch, der in der Nachmittagssonne schimmert.
    »Bist du sicher, dass ich das darf?«, frage ich.
    »Tante Crawford schläft am anderen Ende des Hauses. Da hört sie nichts. Nun mach schon!« Er sieht mich erwartungsvoll an.
    Vorsichtig lege ich die Hand auf die Tasten. Sie fühlen sich anders an als alle, die meine Finger je berührt haben. Damals weiß ich noch nicht, dass sie aus feinstem Elfenbein sind und es sich um einen einhundertfünfzig Jahre alten Bechstein-Flügel handelt. Ich schlage eine Taste ganz leicht an; der Ton hallt lange nach.
    Kit wartet mit verschränkten Armen neben mir. Mir wird klar, dass mir keine andere Wahl bleibt, und ich beginne, die Mondscheinsonate zu spielen, die ich erst vor Kurzem gelernt habe. Im Moment ist es mein Lieblingsstück, und ich habe Stunden damit verbracht, es zu üben.
    Ich vergesse, dass Kit neben mir steht. Der wunderbare Klang des Instruments trägt mich fort. Ich reise, wie immer beim Spielen, an einen anderen Ort, weit weg von hier. Die Sonne scheint auf meine Finger; sie wärmt mein Gesicht. Ich habe das Gefühl, besser denn je zu spielen, und bin überrascht, als das Stück zu Ende ist.
    Als ich aus der Ferne Applaus höre, zwinge ich mich, in den riesigen Raum zu Kit zurückzukehren, der mich voller Bewunderung ansieht.
    »Wow!«, ruft er aus. »Das war toll!«
    »Danke.«

    »Du bist so jung, und deine Finger sind kurz. Wie können sie sich so schnell über die Tasten bewegen?«
    »Keine Ahnung. Sie tun es einfach.«
    »Weißt du, dass Tante Crawfords Mann Harry, Lord Crawford, offenbar ein hervorragender Pianist war?«
    »Nein.«
    »Das hier war sein Flügel. Er ist gestorben, als ich ein Baby war. Ich habe ihn nie spielen hören. Kannst du noch was anderes?«
    »Ich … Ich glaube, ich sollte gehen.«
    »Nur noch ein Stück, ja?«
    »Na schön.«
    Ich beginne, Rachmaninows Rhapsodie über ein Thema von Paganini zu spielen. Wieder verliere ich mich in der Musik. Ich befinde mich ungefähr in der Mitte des Stücks, als ich jemanden rufen höre: »Aufhören! Auf der Stelle!«
    Ich schaue hinüber zur Tür des Wohnzimmers, an der eine groß gewachsene, schlanke, grauhaarige Frau mit wutverzerrtem Gesicht steht. Mein Herz beginnt sehr schnell zu schlagen.
    Kit tritt zu ihr. »Entschuldige, Tante Crawford. Ich habe Julia gebeten zu spielen. Du hast geschlafen; deshalb konnte ich dich nicht um Erlaubnis fragen. Haben wir dich geweckt?«
    Sie sieht ihn mit kalten Augen an. »Nein. Ihr habt mich nicht geweckt. Aber darum geht es nicht, Kit. Du weißt doch, dass niemand auf diesem Flügel spielen darf, oder?«
    »Es tut mir wirklich leid, Tante Crawford. Das war mir nicht klar. Julia ist einfach toll. Mit ihren elf Jahren spielt sie schon wie eine Konzertpianistin.«
    »Genug!«, herrscht seine Tante ihn an.
    Kit bedeutet mir mit hängenden Schultern, ihm zu folgen.
    »Entschuldige noch einmal«, sagt er, während ich hinter ihm hinaustrotte.
    Als ich an Lady Crawford vorbeigehe, hält sie mich auf. »Bist du
Staffords Enkelin?«, fragt sie, die kalten blauen Augen auf mich gerichtet.
    »Ja, Lady Crawford.«
    Ich merke, wie ihr Blick ein wenig sanfter wird. Fast habe ich den Eindruck, dass sie den Tränen nahe ist. Sie nickt. »Tut mir leid, die Sache mit deiner Mutter.«
    Kit, der die Anspannung spürt, fällt ihr ins Wort. »Julia hat dir eine neue Orchidee aus dem Gewächshaus ihres Großvaters gebracht, stimmt’s, Julia?«, ermuntert er mich.
    »Ja«, bestätige ich mit zugeschnürter Kehle. »Ich hoffe, sie gefällt Ihnen.«
    »Bestimmt. Sag deinem Großvater danke schön von mir.«
     
    Alicia wartete geduldig in der Schlange für den Verkaufskatalog.
    »Bist du als Kind je in diesem Haus gewesen?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete Julia. »Einmal.«
    Alicia deutete zur Decke hoch. »Ziemlich kitschig, diese Putten, findest du
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