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Orchideenhaus

Orchideenhaus

Titel: Orchideenhaus
Autoren: L Riley
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Hier gaben nicht Wecker und Stundenpläne den Takt an, sondern die Natur.
    Sie erinnerte sich gut an die klassische Musik, die von morgens bis abends aus dem alten Bakelitradio ihres Großvaters erklang.
    »Blumen lieben Musik«, sagte ihr Großvater Bill, wenn er sich um seine wertvollen Pflanzen kümmerte. Julia saß gern auf einem Hocker in der Ecke beim Radio, sah ihm zu und lauschte der Musik. Damals lernte sie Klavierspielen und entdeckte ihr Talent dafür.
    Im kleinen Wohnzimmer des Cottage stand ein Klavier, auf dem sie nach dem Abendessen oft vorspielte. Ihre Großeltern sahen anerkennend und bewundernd zu, wie Julias zarte Finger über die Tasten glitten.
    »Das ist eine von Gott gegebene Begabung, Julia«, stellte Großvater Bill eines Abends mit Tränen in den Augen fest. »Versprich mir, dass du sie nicht vergeudest, ja?«

     
    Zu ihrem elften Geburtstag schenkte Großvater Bill ihr eine Orchidee.
    »Die habe ich eigens für dich gezüchtet, Julia. Sie heißt Aerides odorata .«
    Julia begutachtete die zarten, elfenbein-rosafarbenen Blütenblätter der Topfpflanze, die sich samten anfühlten unter ihren Fingern.
    »Wo kommt die her, Großvater Bill?«, fragte sie.
    »Aus Asien, genauer gesagt aus der Gegend von Chiang Mai im nördlichen Thailand.«
    »Ach. Und welche Art von Musik, glaubst du, gefällt ihr?«
    »Mozart scheint sie besonders zu mögen«, antwortete ihr Großvater schmunzelnd. »Und wenn sie zu welken droht, solltest du es mit Chopin versuchen!«
     
    Julia pflegte im Wohnzimmer ihrer zugigen viktorianischen Wohnung in den Außenbezirken von Norwich sowohl ihre Orchidee als auch ihre musikalische Begabung und spielte der Pflanze fleißig vor, so dass diese immer wieder blühte.
    Sie träumte von der exotischen Heimat ihrer Orchidee. Dann war sie plötzlich nicht mehr in ihrem Wohnzimmer in England, sondern in den Weiten fernöstlicher Dschungel, vernahm die Geräusche von Geckos und Vögeln und roch die berauschenden Düfte der Blumen, die auf den Bäumen und im Unterholz wuchsen.
    Sie wusste, dass sie eines Tages selbst dorthin reisen würde, um alles mit eigenen Augen zu sehen.
    Großvater Bill starb, als sie vierzehn war. Julia erinnerte sich deutlich an das Gefühl des Verlustes – er und die Treibhäuser waren für sie das einzig Sichere in ihrem jungen, bereits schwierigen Leben gewesen. Sie hatte ihn als klugen, freundlichen und aufgeschlossenen Mann empfunden, eher ein Vater,
als ihr eigener es jemals war. Mit achtzehn bekam sie ein Stipendium für das Royal College of Music in London. Großmutter Elsie zog zu ihrer Schwester nach Southwold, und fortan besuchte Julia Wharton Park nicht mehr.
     
    Jetzt, mit einunddreißig, lebte sie wieder hier. Während Alicia von ihren vier Kindern erzählte, erlebte Julia, als sie aus dem Rückfenster blickte, um Gate Lodge nicht zu verpassen, das den Eingang von Wharton Park markierte, wie früher im Auto ihrer Eltern die Vorfreude.
    »Da kommt die Abzweigung!«, rief Julia aus, als Alicia fast daran vorbeifuhr.
    »Mein Gott, stimmt. Mein letzter Besuch ist so lange her, dass ich fast den Weg vergessen hätte.«
    Als sie in die Auffahrt einbogen, sah Alicia ihre Schwester an und entdeckte so etwas wie Erwartung in ihrem Blick.
    »Du hast diesen Ort immer geliebt, stimmt’s?«
    »Ja, du nicht?«
    »Ehrlich gesagt, hab ich mich hier meistens gelangweilt. Ich konnte es gar nicht erwarten, wieder in die Stadt, zurück zu meinen Freunden, zu kommen.«
    »Du warst eher ein Stadtmensch«, stellte Julia fest.
    »Ja. Und was ist aus mir geworden? Mit vierunddreißig wohne ich in einem Farmhaus auf dem platten Land, mit einem Stall voller Kinder, drei Katzen, zwei Hunden und einem Aga-Herd. Wo, zum Teufel, sind die hellen Lichter der Stadt geblieben?« Alicia lächelte selbstironisch.
    »Du hast dich verliebt und eine Familie gegründet.«
    »Und am Ende hast du die hellen Lichter abbekommen«, sagte Alicia ohne Neid.
    »Ja … Da drüben ist das Haus. Es sieht aus wie früher.«
    Alicia richtete den Blick auf das Gebäude vor ihnen. »Ich
finde, sogar noch besser. Ich hatte ganz vergessen, wie schön es ist.«
    »Ich nicht«, murmelte Julia.
    Sie folgten der Schlange von Fahrzeugen, beide in ihre eigenen Gedanken versunken.Wharton Park war im klassischen Georgian Style für den Neffen des ersten Premierministers von Großbritannien erbaut worden, der allerdings starb, bevor der Bau vollendet war. Das fast völlig aus Aislaby-Stein errichtete Gebäude
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