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Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Oksa Pollock. Der Treubrüchige

Titel: Oksa Pollock. Der Treubrüchige
Autoren: A Plichota
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fehlte ihr mehr denn je, und die Sehnsucht nach ihr machte Oksa das Herz schwer. Wenn sie sie erst wieder in die Arme schließen konnte, würde sie dem Ausgang dieses Abenteuers zuversichtlicher entgegenblicken. Wie um Oksas inneren Aufruhr zu verdeutlichen, fegte eine heftige Böe über die Wanderer hinweg und trieb schwere Wolken über die Hügel. Kurz darauf setzte der Regen wieder ein und prasselte unerbittlich herab.
    »Was würde ich nicht alles geben für ein bisschen Sonne«, brummte Oksa und schlug ihren Kragen hoch.
    Sie betrachtete ihre Gefährten, die in Zweierreihen auf dem schmalen Weg vor ihr hergingen. Dragomira war gänzlich unter einem langen kanariengelben Regencape verborgen, das man kilometerweit sehen konnte. »Typisch Baba«, murmelte Oksa voller Zuneigung. Die Alte Huldvolle hielt sich an Pavels Arm fest. Mit hochgezogenen Schultern, jedoch festen Schrittes gingen die beiden voran. Oksa war stolz auf ihren Vater. Auf seine Kraft, seinen Mut und den Entschluss, zu dem er sich durchgerungen hatte – sich der Gemeinschaft der Rette-sich-wer-kann mit Leib und Seele zu verschreiben. Auf seine ganz eigene Art war er fest geblieben: »Um es ein für alle Mal klarzustellen, herzallerliebste Mutter«, hatte er zu Dragomira gesagt. »Wir retten Marie und die beiden Welten, und dann lässt du mich mein Leben so leben, wie ich es für richtig halte. In Ordnung?«
    Hinter Dragomira und Pavel gingen Gus und Zoé schweigend nebeneinanderher. Gus war der Einzige unter ihnen, der keine magischen Fähigkeiten besaß, und dieser Marsch durch Sturm und Regen schien fast über seine Kräfte zu gehen. Zoé, die sich von Zeit zu Zeit mit dem Handrücken die rotblonden Haare aus dem Gesicht strich, warf ihm immer wieder besorgte Blicke zu. Oksas Herz krampfte sich zusammen. Eigentlich hätte sie an seiner Seite gehen sollen, nicht Zoé. Sie hätte ihm Mut zusprechen sollen. Sie ballte die Fäuste vor Wut und Hilflosigkeit. Sie wollte so gern ­etwas tun. Aber was?
    »Gus?«
    Der Ruf war ihr einfach so herausgerutscht und überraschte sie selbst am meisten. Sie lief knallrot an, während Tugdual sie grinsend von der Seite ansah. Gus wandte sich erstaunt um.
    »Was?«, brummte er unwirsch.
    Vor lauter Verlegenheit fiel Oksa nichts Besseres ein als die Frage: »Wie geht’s dir?«
    »Genauso wie allen anderen«, antwortete der Junge mit verkniffenem Gesicht.
    Oksa konnte seine ganze Qual und den Groll, den er gegen sie hegte, in seinen unglaublich blauen Augen sehen, ehe er den Kopf wieder nach vorn wandte. Er war sehr wütend auf sie, weil sie sich so offensichtlich für Tugdual interessierte. Vom ersten Moment an waren sich die beiden Jungen mit unverhohlener Rivalität begegnet, die Tugdual mit Ironie, Gus mit Bissigkeit austrug. Oksa hingegen erlebte die erste Verliebtheit: Tugdual hatte einen festen Platz in ihrem Leben und in ihrem Herzen eingenommen. Im Gegenzug war zwischen ihr und Gus etwas zu Bruch gegangen, das ließ sich nicht leugnen. Nichts war mehr so wie vorher. An die Stelle der innigen Vertrautheit, die immer zwischen ihnen geherrscht hatte, war eine Art feindseliger Gereiztheit getreten, die Oksa schwer zu schaffen machte.
    »Wieso um alles in der Welt habe ich ihn bloß angesprochen?«, schalt sie sich leise.
    »Weil du eine Kleine Huldvolle mit überbordendem Temperament bist, die handelt, bevor sie nachdenkt, und die einen Hang dazu hat, sich in peinliche Situationen zu bringen«, gab ihr Tugdual in vertraulichem Ton zur Antwort.
    Oksa ballte die Fäuste. Ich will ihn nicht verlieren!, dachte sie, während sie Gus’ schmale Silhouette betrachtete und zusah, wie er sich auf dem sumpfigen Pfad abkämpfte. Sie vergrub die Hände in den Taschen und stapfte mürrisch vor sich hin. Mit der Spitze ihres Schnürstiefels kickte sie einen Stein vom Weg und sah zu, wie er die Böschung hinunterrollte. In der Ferne verschwammen die Hügel im prasselnden Regen. Der Horizont war so verhüllt wie ihre Zukunft.
    Seit über zwei Stunden marschierten die Rette-sich-wer-kann in erschöpftem Schweigen, als Oksa auf einmal rief:
    »He, seht mal!«
    Alle hoben den Kopf und richteten den Blick auf einen Hasen, der über die Heide gesprungen kam. Dragomira stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, und ihre Augen bekamen schlagartig wieder ihren alten Glanz.
    »Abakum«, flüsterte sie.
    Der Hase kam in vollem Lauf auf sie zu, begleitet von zwei ungewöhnlichen Geschöpfen: dem Wackelkrakeel der Baba Pollock, das mit
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