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Nur Engel fliegen hoeher

Nur Engel fliegen hoeher

Titel: Nur Engel fliegen hoeher
Autoren: Wim Westfield
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Plötzlich fällt die Tür aus dem Rahmen und kracht laut scheppernd nach außen auf den Beton.
    Ein kalter Luftzug weht ins Treppenhaus. Beide halten einen Moment inne und lauschen. Niemand kommt. Sie hängen die Tür leise von außen wieder ein und binden sie mit Draht fest, dass sie nicht auf und zu schlagen kann.
    Sie treten hinaus auf das Dach. Berlin liegt im glutroten Abendlicht. Bis auf den Kasten für die Fahrstuhltechnik ist das Dach flach, lediglich einige Lüfterrohre und Antennen ragen in den Himmel. Die Kanten des Daches sind umlaufend durch eine etwa 2 5 Zentimeter hohe Brüstung gesichert. In Richtung Grenze gibt es eine schmale Stelle ohne Absperrung, vermutlich, um Regenwasser abzuleiten.
    Sie legen ihre Drachen hinter dem Fahrstuhlaufbau ab und sehen sich um. Unter ihnen liegen der Schulhof, dahinter die Reinhold-Huhn-Straße, unmittelbar danach folgt die Grenze.
    Dank einer Baulücke in der Reinhold-Huhn-Straße haben sie eine breite Flugschneise nach West-Berlin. Der Grenzstreifen ist taghell erleuchtet und zieht sich als Lichtband quer durch die Stadt. Die Scheinwerfer der Wachtürme sind nach unten auf den Grenzstreifen gerichtet. Niemand würde hier oben zwei Flüchtlinge vermuten. Schräg gegenüber liegt gleich hinter der Grenze das Haus des Axel-Springer-Verlages; zwischen Springer-Haus und Checkpoint Charlie befindet sich eine Aussichtsplattform, von der Touristen einen Blick nach Ost-Berlin werfen können.
    Fred und Jonas müssen über den Schulhof hinwegfliegen, dann die Reinhold-Huhn-Straße überqueren und durch die breite Baulücke über die Mauer schweben. Gelingt es, landen sie in West-Berlin in der Nähe der Aussichtsplattform. Theoretisch müsste das zu schaffen sein. Es weht ein leichter Wind aus Süden. Ideale Bedingungen für den Flug in die Freiheit.
    Schweigend bauen sie ihre Drachen zusammen. Gegen Mitternacht essen sie mehrere kalte Bockwürste und trinken Kaffee aus der Thermoskanne. Dann versuchen sie ein paar Stunden zu schlafen, doch keiner kann ein Auge zumachen. Sie sind zu aufgeregt. Bei jedem unbekannten Geräusch schrecken sie auf. Nach ein Uhr scheint sich die Stadt schlafen zu legen. Der Autoverkehr in Ost und West ebbt ab, die Geräusche werden weniger, viele Lichter gehen aus. Nur die Grenze bleibt hell erleuchtet.
    Schweigend sitzen sie auf dem Dach neben ihren Drachen, trinken Kaffee und rauchen eine Zigarette nach der anderen.
    Leise frag Jonas: »Wer fliegt als Erster?«
    »Wat is dir lieber? Streichhölzer ziehen oder Münze werfen?«
    »Ich werde zuerst starten.«
    »Alter, so mutig kenn ick dich gar nich.«
    »Fred, ich habe in diesem Land nichts mehr verloren. Entweder, ich schaffe es oder gehe dabei drauf.«
    »Dit sieht bei mir nich viel anders aus.«
    »Nein. Wenn ich lebend im Westen ankomme, kannst du mir folgen. Sollte ich sterben, kannst du immer noch den Fahrstuhl nehmen. Sicher gehst du dann in den Knast. Aber du lebst.«
    »Alter, hör auf, ick muss sonst heulen. Heute frühstücken wir am Kudamm.«
    Die Morgendämmerung kündigt den neuen Tag an. Jonas sieht auf die Uhr: Es ist 5 Uhr 12 am 9. September 1989. Sie hören Vogelgezwitscher und sehen, wie allmählich die Stadt erwacht. Punkt 6 Uhr 30 Uhr steigt glutrot die Sonne über dem Ostteil von Berlin auf. Fred beobachtet die Grenze. Zu Sonnenaufgang, so der Plan, wollen sie starten.
    Fred tippt Jonas an und zeigt auf die Aussichtsplattform hinter der Grenze. Da steht auf einmal jemand.
    »Mein Gott, das ist Julia! Ja, ganz sicher, das ist sie«, flüstert Jonas.
    »Jetzt bloß nicht winken, Alter, sonst macht sie das eventuell ooch.«
    »Julia, steh mir bei.«
    »Mensch, Alter, dein Schutzengel ist schon da. Du solltest dich jetzt fertig machen.«
    Sie rauchen eine letzte Zigarette. Dann umarmen sich Fred und Jonas so fest, wie sie sich noch nie umarmt haben, und geben sich einen Kuss.
    Wortlos legt Jonas seine Gurte an, hält den Drachen mit beiden Armen fest und geht einige Schritte zurück. Ein letztes Nicken von Fred. Jonas nimmt einen kurzen Anlauf. Er rennt zur Dachkante, stoppt aber im letzten Moment.
    »Alter, ick glaube dir, dass du die Hosen voll hast. Ick habe genau solche Angst wie du.«
    »Mach's gut, Fred. Ich starte jetzt.«
    Jonas geht erneut zurück und vergewissert sich noch einmal, dass er seinen Drachen fest im Griff hat. Mit ganzer Kraft nimmt er Anlauf und stürzt sich über die Dachkante des Hochhauses.
    Er fällt steil nach unten. Nach einigen Sekunden bekommt der
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